Donnerstag, 30. April 2009

Abschied 9

Ich reise mit leichtem Gepäck bei schönstem Wetter.

Ab Willisau nach Zürich Flughafen mit Umsteigen in Luzern.
Ab Zürich Flughafen nonstop nach Hamburg.
Ab Hamburg mit Umsteigen in Itzehoe nach Meldorf.
Ankunft 21:23 Uhr.

Mittwoch, 29. April 2009

Abschied 8

Ich verlasse die Mühle. Das große Gepäck hat meine Schuhfrau gestern Abend vorsorglich abgeholt. Das kleine Gepäck besteht aus dem Laptop, dem angeschwollenen Notizbuch und meiner Zahnbürste.
Ich habe mich von den Crispins verabschiedet und meinen Dank hier gelassen. Ich habe mich von den Piloten der Air Willisau verabschiedet. Ich habe mich von der Buchhändlerin verabschiedet. Und ich habe mich vom Buchhändler verabschiedet. Ich habe mich von den guten Seelen in der Mühle verabschiedet. Habe ich jemanden vergessen? Ich habe mich von der Geigerin, dem Organisten, dem Pfarrer verabschiedet. Den Nachbarn, den Hasen, dem Töpfer, der Frisöse, die Schumacher heißt aber nicht Schuhmacher ist.
Und ich habe Willisauer Ringli gekauft und Amarettis.
Heute Nacht schlafe ich zum ersten und letzten Mal im Sankt Crispin in Menznau. In einem Zimmer unter dem Dach, in dem bestimmt die eine oder andere meiner Figuren die eine oder andere Nacht auch schon verbracht hat.

Dienstag, 28. April 2009

Abschied 7

Um 13.28 Uhr ist der jüngste Spross der Schuhmacherdynastie zur Welt gekommen: 3.670 kg und 51 cm lang. Ich war zum ersten Mal in der Werkstatt des Willisauer Goldschmieds. Es hat den ganzen Tag geregnet. Ich packe alles bis auf den Computer ein. Am Abend holt die Schuhfrau das Gepäck ab. Wir gehen zum letzten Mal in die Schwesternwirtschaft und trinken ein Glas Wein auf den Neugeborenen. Wolfgang ist in Meldorf eingetroffen. Ich schlafe zum letzten Mal in der Mühle.

Montag, 27. April 2009

Abschied 6

Zum ersten Mal bin ich mit Magenschmerzen aufgewacht. Zum ersten Mal habe ich unglaublich wild geträumt. Die Fotoalben müssen dahinter stecken, hinter den Bildern meiner Nacht. Die Familienfotos, die wir gestern bis spät noch anschauten auf der Suche nach ein paar schwarzweißen Aufnahmen mit gezackten Rändern, die so fest auf dem Papier klebten, als hätte man sie mit Schuhmacherleim für die Ewigkeit in das Album bannen wollen. Wir mussten sie mit einem scharfen Messer von den Seiten schneiden. Und dann spukten die Gäste unzähliger Geburtstags- oder Hochzeitsfeiern durch meinen Schlaf. Aber auch Ferienausflügler und Sonntagsausflügler. Große Kinder und kleine Kinder. Ferienlandschaften und Sonntagslandschaften. Viele Kinder und wenige Kinder. Kaum Alltagsleben. Nur Ausnahmemomente. Ein halbes Jahrhundert Sonntagsgefühle.

Zum ersten Mal regnet es heute den ganzen Tag. Aber ich habe genug Sonne gesehen gestern, bis tief in die Nacht. Der Niederschlag heute ist nicht heftig, aber feucht genug, um als Regen durchzugehen. Durch die Hose oder die dünne Jacke. Kalt ist es nicht. Ich habe genug Farbe gesehen gestern, bis spät am Abend. Heute bin ich zum ersten Mal mit dem Fahrrad durch den Regen gefahren. Die Farbe der Raiffeisenbank wechselt auch tagsüber von pink zu lachs zu grün zu gelb, nur sieht man sie nachts besser. Weit bin ich nicht gekommen, aber weit genug, um nass zu werden.

Sonntag, 26. April 2009

Abschied 5

Zum ersten Mal steht heute der neue Mond am Himmel. Eine riesige dünne leuchtende Fingernagelschmale Sichel hängt am Horizont vor der Windschutzscheibe, während die Schuhmacherin ihre Schriftstellerin in der Nacht in die Mühle zurückbringt.
Sie verbrachten heute zum letzten Mal den Sonntag zusammen.
Über Texten, Schuhen, Geschichten, Fotos und vollen Tellern.
Auf Treppen in den Keller und auf den Dachboden.
An Tischen im Garten und im Haus.

Samstag, 25. April 2009

Abschied 4

Heute war ich zum letzten Mal im Guonwald. Bin hoch und wieder runter gestiegen. Lief über Vorberg wie immer bis fast zur Mörisegg. Weil es so schön war. Hab ein letztes Mal die Alpen am Horizont gesehen und mir zum letzten Mal überlegt, welches das Glärnischmassiv sein könnte, wo der Böse Faulen hervorguckt, wo der Pfannenstock. Wo der Tödi, der Düssi, der Oberalpstock.
In Gottes Namen. Amen.
Heute Nachmittag sah ich die erste Braut vor der mächtigen Kirche vor meiner Nase. Wie sie nervös herumstakste. Mit den Eltern, dem nervösen Vater. Mit der Brautjungfer. Die Schuhe konnte ich unter der bodenlangen Schleppe nicht sehen. Trotzdem sah ich, dass sie zu eng waren. Das Kleid hingegen wirkte von oben einfach nur wie zuviel Stoff. Die Braut rauchte. Unruhig. Ich verstand ihren Zustand nicht. Sie tat das doch alles freiwillig. [Wie nach Redaktionsschluss zu erfahren war, handelte es sich um die erste eidgenössisch diplomierte Polybau-Poliererin, oder Flachdachdeckermeisterin - kein Wunder also, sieht so eine Frau im weißen Hochzeitstüll "verkleidet" aus.]
Zu beiden Seiten des Kirchenportals sind kleine Metallkästen in das Gestein eingelassen. Sie lassen sich entfernen. Ab und zu leert sie der Mann, der im Winter auch den Schnee fegte. Aschenbecher.
Am Vormittag war der Dreißigste für den Napftoten.
Menschen, die zum Palmsonntagshochamt gehen, zur Karfreitagsmesse, zur Osternachtfeier, zum Weißen Sonntag, zum Wettersegen, zum Wortgottesdienst, zum Familiengottesdienst mit Kinderwagen, zur Eucharistiefeier oder zu einem normalen Werktagsgottesdienst am Morgen oder am Abend. Menschen, die sich zu einer Begräbnisfeier versammeln. Menschen, die an Gedenkandachten teilnehmen. Menschen, die zu einer Hochzeit zusammenkommen. Sie alle müssen vor der Kirche schnell noch eine rauchen. Denn drin gilt Rauchverbot. Sie stehen herum wie vor jeder Kneipe. Hektisch und getrieben.
Und der Pfarrer parkt sein Auto direkt neben dem Kirchenportal. Vor Feiertagen und wenn viele Gottesdienstbesucher erwartet werden, wie beispielsweise heute, stellt er es auf eines der blau oder weiß umrandeten Parkfelder unterhalb der Kirche. Wolfgang meinte, scharfzüngig wie er nun einmal ist, rein passe er, der Napfberglandtaugliche Wagen nun einmal nicht. Ein Pfarrer habe ja wohl Anspruch darauf, dass alles, was sein ist, in der Kirche unterkommt.

Freitag, 24. April 2009

Abschied 3

Heute früh hing hoffentlich der Atem des ersten Spaziergängers zum letzten Mal wie eine weiße Wolke vor seinem Gesicht. Heute Abend saß ich zum ersten Mal im Landgasthof auf dem Menzberg, welchen die Einheimischen immer noch Kurhaus nennen. Die Sicht war wie das Wetter. Unschlüssig. Bedeckt. Trotzdem glaubte ich in einem lichten Moment den Titlis erspäht zu haben zwischen Pilatus und Brienzer Rothorn. Vielleicht aber war es auch nur eine stürmische Wolkenfatamorgana. Was ich aber sicher den ganzen Abend vor Augen hatte, war die Hasenmatt. Dort ist eine meiner Figuren zur Welt gekommen.
Ich habe viele Dinge heute zum ersten und zugleich letzten Mal getan, gesehen, gehört.

Donnerstag, 23. April 2009

Abschied 2

Heute war ich zum letzten Mal einkaufen. Habe mir ausgerechnet, was ich noch alles essen kann und bin frohlockend mit dem letzten zusammengefalteten Kassenzettel von dannen gezogen. Auf dem Heimweg betrat ich zum erstenmal seit fast vier Monaten die Apotheke und kaufte Similasan Augentropfen Nr. 2 und Alcacyl. Aus lauter Nostalgie. Die blutjunge Verkäuferin schaute mich prüfend an und machte mich darauf aufmerksam, dass ich letzteres nicht schlucken soll, falls ich blutverdünnende Mittel einnehme. Tja, dachte ich, als ich wieder auf der Straße stand. So weit ist es also gekommen. So alt sehe ich also aus. Die Sonne schien und der Bisluft ging.

Mittwoch, 22. April 2009

Abschied 1

Heute war ich zum letzten Mal in Basel im Formonterhof. Habe zum letzten Mal dort die Chi Form geübt. Die Basler Tai Chi Lehrerin benützt eine andere Sprache, andere Bilder, andere Vergleiche als alle meine bisherigen Lehrer. Die Berliner, die Hamburger, der Krakauer. Schon deshalb haben sich die Fahrten mit der SBB gelohnt. Mein Basel ist anders geworden. Sie, die Baslerin, hat mich heute darauf aufmerksam gemacht, dass mir das Zentrum fehlt. Sie meinte eine der Vertiefungsstufen. Das weiß ich. So weit bin ich noch gar nicht. Aber sie sah mich gerade richtig. Meine Mitte besteht tatsächlich momentan aus Luft. Oder einem klaffenden Loch. Ich trage gute Schuhe. Und habe einen müden Kopf. Dazwischen ist nichts. Und dafür haben sich die Fahrten mit der SBB gelohnt.

Der Formonterhof ist eingepackt. Der Ausblick auf den Rhein aus seinem Innern ist verhängt mit einem staubsicheren Vorhang. Die Vormittagskurse verlege sie in den Park, sagt die Basler Tai Chi Lehrerin. Das Stemmen, Schleifen, Gebläse sei unerträglich. Das Entfernen des bisherigen Anstrichs, bis zu 14 Farbschichten ist geräuschintensiv und nervtötend. Bis ich wieder nach Basel komme, wird der neue Ocker-Farbton bereits wieder angeschwärzt sein.

Dienstag, 21. April 2009

Wortverankerungen

Schon seit mehreren Wochen hängt dieses Plakat am Willisauer Bahnhof. Ich vergesse es immer wieder. Es verfolgt mich nicht. Ich vergesse seine Aussage, die einzelnen Wörter, den Sinn, der mir nicht aufgehen will, sofort wieder, kaum bin ich um die nächste Ecke gebogen oder in den nächsten Zug gestiegen. Die Agentur C, die für diese Art von "Werbekampagne" verantwortlich zeichnet, hat ihr Ziel (ich zitiere: "Die Agentur C möchte, dass alle Menschen Gottes Realität und Erfahrbarkeit erleben und mit ihm in Beziehung treten") in meinem Fall offenbar nicht erreicht.
Jedesmal, wenn ich auf einen Zug warte, starre ich das Plakat an und wundere mich von neuem. Was soll das bedeuten? Wie soll ich das verstehen: "Es ist besser, auf Gott zu vertrauen, als sich auf Menschen zu verlassen"?
Hätte ich in den letzten drei Monaten auf Gott vertraut und mich nicht auf Menschen verlassen, wäre ich heute nicht mehr hier. Obwohl ich fast täglich in den Willisauer Kirchen sitze, habe ich nicht das Gefühl, Gott würde etwas für mich tun. Weder kann er mein Heimweh lindern, noch kennt er sich aus mit Schuhmachervokabular oder dem grammatikalischen Geschlecht von Flurnamen in den Napfabdachungen. Wie soll ich hier (hier oder anderswo - im Moment bin ich hier) leben und mich nicht auf Menschen verlassen? Nur auf Gott vertrauend? Ohne mich auf Menschen zu verlassen? Auf Menschen wie die Schuhfrau, die mich einen ganzen Nachmittag lang in ihrer Werkstatt herumstehen lässt, damit ich endlich begreife, was sie tut. Wie den Orgelspieler, den ich mittlerweile höre, ohne in der Kirche sitzen zu müssen, denn meine Fenster lassen sich nach innen öffnen. Wie die Verlegerin, die mir einen Fototermin erlässt und den Abgabetermin um zwei Wochen hinausschiebt. Wie die Grafikerin, die als einzige weiß, dass es das Guon heißt und die Gulp. Wie die Geigerin, die mir einen Tisch am Fenster ihres Wohnzimmers zur Verfügung stellt. Wie die alte Schuhmacherfrau, die Bärlauchsuppe kocht und Erdbeeren schnippelt? Wie der alte Schuhmacher, der mich belehrt, dass seine Schuhmacherschürze nie Taschen gehabt habe, weder außen noch innen. Die ließ er immer wegtrennen, weil sie unpraktisch sind und sich darin nur Dreck ansammelt. Wie die Schuhfrau, die richtig bemerkt, dass ich für das, was ich mir vorgenommen habe, nicht die richtigen Schuhe an den Füßen trage. Wie ... Wie Wolfgang, der mich auch aus China jeden Tag anruft und fragt "wieviele Seiten hast du heute geschrieben?"

Die Agentur C hat ein Siebenjahresprogramm: "In sieben Jahren Gottes Wort in der Schweiz verankern". Von September 2005 bis März 2008 lief die erste Phase: "Gottes Charakter vorstellen". Die zweite Phase steht unter dem Motto "Gottes Liebe und Treue Lehren". Sie dauert bis September 2010. Danach folgt die letzte Phase, "Gottes Gebote bekannt machen" Im Jahr 2012 ist soll das Wort Gottes in der Schweiz verankert sein.

Ich habe ein Viermonateprogramm. Ein Buch schreiben. Der Willisauer Bahnhof wird gerade umgebaut, behindertengerecht mit Fahrstuhl ausgestattet und dergleichen mehr. Im Moment wirkt er sehr unübersichtlich und voller Stolpersteine. Ich verlasse mich auf Menschen und freue mich, wenn der Zug nach Menznau pünktlich einfährt. Oder wenn ich den Weg durch die Unterführung auch nach der nächsten Bauphase wieder finde.

Montag, 20. April 2009

Meine Nachbarn II

Meine Nachbarn sind weitergezogen. Mehr Gras als für ein einziges Wochenende war nicht zu holen vor meinem Fenster. Noch höre ich sie, denn sie tragen Glöckchen. Sie grasen wahrscheinlich weiter oben am Schlosshügel und fürchten sich dort in der Nacht, wenn es gewittert. Sehen kann ich sie nicht mehr, denn meine Fenster sind denkmalgeschützt. Ich kann sie nicht nach außen öffnen und mich nicht hinauslehnen.

Sonntag, 19. April 2009

Auf der anderen Seite der Stadtmauer II

Zur Erinnerung noch einmal das Bild vom modernen Anbau westlich der Stadtmühle, dh außerhalb der alten Stadtmauer - entlehnt von http://www.willisau.ch/ .

Ich saß heute den ganzen Tag unten in der hellsten und höchsten Ecke der Mühle. Ich blätterte im Leben meiner jungen Protagonistin. Ich brauche immer noch viel Licht. Immer, wenn ich den Blick von ihrem Leben hob, sah ich Holz. Ich sah durch die hohen Fenster draußen Holz. Holz am Anbau. Rund herum. Massive Holzbretter. Bis ich endlich verstand: der Anbau ist nicht aus Beton gebaut, wie ich immer meinte. Sondern da ist Holz. Sichtbar. Außen. Wenigstens (was heißt "wenigstens"?) als Verkleidung. Vielleicht ist der rechteckige Kasten darunter doch aus Beton gebaut. Das weiß ich nicht und zeigen will er mir das nicht. Das Holz erkannte ich als Holz erst heute Nachmittag bei der richtigen Sonneneinstrahlung. Der Anbau ist holzverkleidet. Dreieinhalb Monate habe ich für diese simple Einsicht gebraucht. Erst heute sah ich Holz. Und nicht Beton. Langläufige, waagerechte, langgezogene Maserungen. Die Bretter liegen am Anbau. Ich stand auf von meinem provisorischen Arbeitstisch und befühlte sie. Dort, wo sie um die Ecke ins Innere kommen. Denn die Tür, eine Notausgangstür, die nach draußen führt, auf die Feuertreppe, ist verschlossen. Ich spüre unter meinen Fingerbeeren das Holz und seine Struktur. In Berlin befühlte ich andere Wände. Die zeigten auch Holzmaserungen, bestanden aber unzweifelhaft aus Beton. Im Sichtbeton der Gebäude, deren Wände mein Schwiegervater beim Bau eingeschalt hatte, ist die Maserung der Schalbretter für immer und ewig hinterlegt. Lotrecht, denn Schalbretter stehen am Bau.
Hier tut das Holz so, als ob es Beton wäre. Und liegt in der Welt.
Dort zeigt der Beton, was ihn einmal aufgerichtet hatte. Aufrecht. Wie Bäume im Wald.

Samstag, 18. April 2009

Meine Nachbarn

Es klingelt. Ich erwache in der Mühle. Auf dem steilen winzigen grünen Dreieck am Schlosshügel, auf der Südseite der Kirche versammeln sich Schafe. Dunkelbraune Schafe. Eine ganze Herde. Ich kann nur ein einziges Lamm entdecken. Alle haben gelbe Marken in den Ohren und Glöckchen um den Hals. Als wollten sie mich meine Sehnsucht nicht vergessen lassen. An der Nordsee grasen jetzt die Schafe mit ihren Osterlämmern auf dem Deich. Ohne Glöckchen um den Hals. Die sind mit Farbe auf dem Rücken markiert. Und nummeriert. Würden sie dort das Gras nicht immer wieder abrupfen, könnte der Deich den Stürmen nicht standhalten. Und unser Haus stünde wahrscheinlich bald unter Wasser.

Freitag, 17. April 2009

Pressespiegel

In der Zeitung von vorgestern lese ich staunend vom "Notstand bei der Notdurft" - bei der SBB seien zu viele Toiletten defekt. In einem Vormittagszug von Bern nach Baden, wird berichtet, funktionierten am Dienstag nach Ostern von 7 Toiletten nur 4. Der Zugbegleiter oder Kondukteur erklärte dem Passagier, das sei nicht ungewöhnlich. Nach Feiertagen blieben viele Zugtoiletten verschlossen. Weil, so wird er zitiert, an den freien Tagen weniger Personal arbeite, könnten die Fäkalientanks nicht geleert werden. Und ein zweiter Kondukteur ergänzt: die SBB habe Mühe, Ersatzteile bei den Herstellern ihrer Toiletten zu beschaffen. Deshalb seien viele Toiletten unbrauchbar.
Ich staune. Ich habe in den letzten drei Monaten in keinem Zug eine Toilette angetroffen mit einem "Fäkalientank". Ich fahre regelmäßig Zug in diesem Land. Meine Lieblingsrennstrecken sind Willisau - Basel oder Willisau - Zürich. Mit umsteigen meist in Olten, ab und zu auch in Luzern, Sursee oder Nebikon. Mittlerweile habe ich herausgefunden, dass ich in einem weniger überfüllten Intercity nach Basel komme, wenn ich mir in Olten jeweils zwei Minuten länger auf dem Bahnsteig die Beine vertrete. Genauso direkt und ohne Halt. Aber ein Klo, das anders funktioniert als mit direktem Abgang auf die Geleise habe ich noch nirgends angetroffen.
Ein SBB-Sprecher wird zitiert mit dem Satz: "Unser Ziel ist, dass unsere Toiletten während 97 Prozent ihrer Einsatzzeit verfügbar sind." Letztes Jahr habe die SBB lediglich einen Wert von 95 Prozent erreicht. Weshalb die SBB ihr eigenes Ziel verfehlte, kann der Sprecher nicht sagen, betont aber, dass sie weder Probleme mit der Lieferung von Ersatzteilen habe noch mit der Leerung der Abwassertanks.
Das glaube ich ihm aufs Wort. Denn für die altmodischen Plumpsklos, auf denen ich meine Notdurft in den Zügen der SBB verrichte, braucht man weder das eine noch das andere.

Donnerstag, 16. April 2009

Das erste Gewitter

Ich bin unersättlich und sitze auf Ushmas Balkon und starre in den verdüsterten Himmel. Gleich werden die ersten Blitze erbarmungslos ihre Lichtschneisen durch die schwarzen Wolken ziehen, auf die Chäppelimatt, auf die Eimatt, auf den Lütenberg, auf den Klünsberg. Hagel peitscht die Wege frei. Ich brauche Licht, gleich welcher Konsistenz. Ich bin an einem kritischen Punkt in meinem Text angekommen. Ich muss mich entscheiden, welche Richtung die Energie nimmt. Ob sie der Schwerkraft folgt oder nicht.

Mittwoch, 15. April 2009

Lichthunger

Seit die Sonne scheint, brauche ich Licht. Viel Licht. Und noch mehr Licht. Die Wiesen sind so schnell grün geworden, als hätte es nie einen Winter gegeben. Gestern Abend war ich im Studehüsli. Am Sonntag lief ich mit Wolfgang über den Honig - oder über die hohe Egg. Wir saßen auf einer Holzbank auf dem Honigchäppeli - dem Bildstock, der seinen Namen von der Egg, auf der er steht erhalten hat. Oder von den vielen Honighöfen, der Under-, Mittler- und Grosshonig, der Neuhonig, der Hinderhonig, der Under- und Oberhonigschwand. Das Chäppeli - die Kapelle - steht zwischen zwei mächtigen Linden, den Honiglinden. Sie wurden im Volksempfinden zusammen mit dem kleinen Heiligtum zum Wahrzeichen der hohen Egg. Als man die alten Bäume einmal fällen wollte und die Axt bei der ersten ansetzte, begann sie zu bluten. Also ließ man sie stehen. Wir schnauften und schwitzten in ihrem Schatten, glotzten auf die unerklärlichen Alpengipfel am Horizont. Wolfgang sagte, hier könnte er nicht leben. Das sei ihm zu gottverlassen. Er fliegt heute in eine gottergebene Gegend dieser Erde. Nach Hongkong. Fährt weiter nach Guangzhou, Zhuhai, Macao. Und nächste Woche nach Beijing. Ab sofort ist er weg, nicht ich. Ich war im Studehüsli. Und als ich es in der Nacht verließ, war es draußen finster wie in einer Kuh. Ich sah zum ersten Mal Sterne in der Schweiz. Einen Sternenhimmel wie über unserem Haus an der Nordsee.

Dienstag, 14. April 2009

Die Akkulturationskurve

Wolfgang war da und hat mir wissenschaftlich erklärt, was ich unwissenschaftlich an mir erfahren habe: auf das Nicht-kennen oder die Ignoranz der Fremde folgt die Euphorie (zB meine Begeisterung über ferne schneebedeckte Alpengipfel), die Verzweiflung (in meinem Fall: zusammengefaltete Kassenzettel), die Anpassung (alternativ für mich: absehbarer Exit).
So funktioniert das, sagt er, wenn Mensch in ein fremdes Land fährt.
Aber, wende ich (zum wievielten Mal?) ein, ich bin in kein fremdes Land gefahren.

Freitag, 10. April 2009

Die Durchmesserlinie

Das Wort, das mir am 5. Januar nach meiner Ankunft irgendwo vor dem Zugfenster durch den Kopf schoss, heißt Durchmesserlinie. Heute habe ich es wieder gefunden. Durchmesserlinie Altstätten - Zürich - Oerlikon. In absehbarer Zeit wird man in der Schweiz nur noch unterirdisch Zug fahren können. Demnächst wird man die ganze Schweiz nur noch auf Durchmesserlinien befahren können. Durchmesserlinien sind per definitionem unterirdisch.
Oberirdisch gibt es schon lange für niemanden mehr freien Platz, und schon gar nicht für geometrisch exakte Linien.

Montag, 6. April 2009

Ariella

Etwas sahen wir gestern, nur etwas - was nicht aus meinem Text stammt: ein zwei Tage altes Kalb. Es stand auf seinen langen dünnen Beinen und hüpfte übermütig um die Mutterkuh herum. Die Bäuerin, eine Kuhnärrin, die schon mal am Sonntag mit der Lieblingskuh spazieren geht, erklärte uns, das Kalb heiße Ariella. Sie suche für ihre Kälber immer schöne Namen aus. Da wussten wir alle noch nicht, dass die Meggener Ariella gerade mit ihrem sensationellen Pferdsprung Europameisterin geworden war.

Sonntag, 5. April 2009

Das zweite Kapitel

Wie immer am ersten Sonntag des Monats marschieren die Schuhfrau und ihre Schriftstellerin durch die Welt des Textes. Heute haben wir ein Mammutprogramm vor uns. Wir schreiten die Koordinaten des zweiten Kapitels ab. So wie in manchen Gemeinden am sogenannten Banntag die Männer mit Gewehren den Gemeindebann abschreiten. Wir sind unbewaffnet. Neugierig treiben wir ein ganzes Jahrhundert Geschichten vor uns her und trauen unseren Augen nicht, dass hinter jedem Hügel des Napfberglandes noch eine Figur hockt. Die entweder neue Schuhe braucht, oder wenigstens einen ganzen Absatz.

Freitag, 3. April 2009

Die erste Eule

Wolfgang meldet aus Meldorf (dieser Ortsname kommt tatsächlich von "melden") die erste Eule. Sie hat sich in eine unserer Weißtannen gesetzt, die den Garten zur Flensburger Straße abschirmen. Sie ist klein, sagt er. Wahrscheinlich eines der aufmerksamen Eulenmännchen vom letzten Jahr. Von den großen Eulenweibchen vorausgeschickt. Zum Ausspähen. Und Platzsichern. Sobald die Ahörner um die Ecke an der Schleswiger Straße ihre Blätter austreiben, werden sie sich dort zum Schlafen niederlassen.

Donnerstag, 2. April 2009

Aprilscherz

Heute kann man ja darüber reden. Dass gestern die halbe Schweiz Kopf stand.
Nicht wegen der von Schweiz Tourismus lancierten Aktion, sämtliche Felsen in diesem Land von Vogelscheisse zu befreien, durch Putzen der Berge, nicht durch Umerziehung der Flugtiere - einer Idee, die sich heute bereits als bester Werbegag aller Zeiten qualifiziert, da sie sich ganz von allein durch alle Pressemeldungen rund um den Globus wälzte.
Nein, die halbe Schweiz stand Kopf wegen der vom Bundesrat lancierten Aktion zur Rettung des N. Als erstes wurden im Kanton Bern allen Ortsnamen auf -igen das längst fällig N einverleibt. So wurde aus Bolligen (wer kennt es nicht!) nun Bollingen (die Deutschen haben's eh immer so geschrieben), aus Ittigen Ittingen, aus Albligen Alblingen, aus Seftigen Seftingen, aus Rümligen Rümlingen, aus Uttigen Uttingen usw.
Statt sich zu freuen, stellten online-Zeitungsleser spitzfindige Kommentare ins Netz. Dass das neue blaue Ortsschild "Bollingen", das auf einem Foto zu sehen war, nicht in der "unsäglichen Frutiger-Schrift" geschrieben sei, die seit fünf Jahren verbindlich sei "für alle Verkehrsbeschriftungen". Dass die Frutiger-Schrift, die "als Denkmal für den Graphiker Frutiger gedacht" war, "aus Distanz unleserlich und daher verkehrsgefährdend" sei. Ein aufrechter Bürger stellte fest: "So ein neues Schild und bereits so kaputt!" Und eine Thurgauerin vermeldete, dass in ihrem Kanton bereits 60% aller Flur- und Ortsnamen "verschweizerdeutscht oder bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt" wurden und führt Beispiele an: "Rotbühl wurde zu Roopel, Siegensee zu Zigeze usw. usf."
Mann und Frau lernt nie aus.

Mittwoch, 1. April 2009

Kein Aprilscherz

Es ist kein Aprilscherz: heute fängt ein neues Kapitel an. Auf meinem Bildschirm. In meinem Kopf ist dieses nächste und letzte Kapitel längst vorhanden. Als Idee. Nicht als Text. Als Gedankensammlung lag es schon auf meinem Schreibtisch am Wattenmeer.

Dienstag, 31. März 2009

Schuhtrocknerei

In Menznau werden nicht nur Schuhe repariert oder die frisch eingetroffenen Schuhe der Frühjahrs- und Sommerkollektion verkauft, sondern bei Bedarf (nach Platzregen) werden Winter-, Halb- oder Ganzschuhe auch zum Trocknen an die Wäscheleine geklammert.

"Für das Überleben des Schuhs ist es wichtig, dass das Leder immer wieder gut austrocknen kann." (aus einem frühmittelalterlichen Standardwerk)

Montag, 30. März 2009

Dreizelgenwirtschaft

"Im Mittelalter wurde im Dorf Menznau vermutlich Dreizelgenwirtschaft betrieben" - lese ich im Internet. Und weiter: "Die Dreizelgenwirtschaft war eine ausgeklügelte Form der landwirtschaftlichen Produktion und der stabilen sozialen Vernetzung. Eine Besonderheit war der fließende Übergang von privatem und gemeinschaftlichem Eigentum."

Und dann erscheinen im Text so schöne Wörter wie Winterzelg, Sommerzelg, Brachzelg. Das heißt der Anbau folgte einer dreijährigen Rotation. Die angesäten Zelgen (die Winterzelg im Winter mit Dinkel und die Sommerzelg im Sommer mit Hafer) wurden mit einem Zaun umgeben, dem Zelghag, Friedhag oder Efad. Sobald die Zelgen abgeerntet waren, standen sie dem allgemeinen Weidgang als Stoppelweide wieder offen. Es war genau festgelegt, wann gepflügt und gesät, wann gejätet und geerntet, wann die Weide eröffnet wurde. Es sollten möglichst alle alle Arbeiten auf den Feldabschnitten, Schlägen oder Zelgen zur selben Zeit erledigen.
Diese kollektive Form des Ackerbaus betrachtete den Boden als Allgemeingut. Die Ackerflur wurde in erster Linie für den Weidgang der Tiere kollektiv genutzt, dann wurde für möglichst begrenzte Zeiträume auf bestimmten Zelgen kollektiv Getreide angebaut. Die Ernte wurde nach jeweiligen Landanteil der Grundstückseigentümer verteilt, obwohl die Erntearbeit oft auch kollektiv verrichtet wurde.
Ziel war es, den landwirtschaftlichen Ertrag zu steigern und zu sichern. Die Fruchtfolge minderte typische Langzeitschäden des monokulturellen Anbaus, auch witterungsbedingte Risiken konnten eingeschränkt werden.

Später, als jeder seins haben wollte bzw. individualistische Vorstellungen von Grundeigentum aufkamen, nannte man diese frühsozialistische Art der Landwirtschaft "Flurzwang".

Sonntag, 29. März 2009

Sonntagspredigt

Nach der kurzen Nacht der Zeitumstellung eine Meldung der Schweizer Nachrichtenagentur SDA:

Der Kanton Luzern hat nach mehr als 500 Jahren das Tanzverbot an Feiertagen abgeschafft. Mit einer hauchdünnen Mehrheit von 51 zu 50 Stimmen kippte die Ratsversammlung des mehrheitlich katholischen Kantons am letzten Montag das Verbot. Die Grünen-Abgeordnete Katharina Meile, die den Vorschlag eingebracht hatte, erinnerte an die Trennung von Kirche und Staat. Es sei paradox, dass es Diskotheken erlaubt sei, Musik an Feiertagen zu spielen, es aber verboten sei, dazu zu tanzen. Dagegen argumentierten Vertreter konservativer Parteien, dass es unbegreiflich sei, dass nicht an sechs Tagen im Jahr die Ruhe respektiert werden könne. Bislang galt das Verbot an Karfreitag, Ostersonntag, Pfingstsonntag, am Eidgenössischen Bettag, an Weihnachten und Aschermittwoch. Die Debatte über eine Abschaffung ist in Luzern schon seit dem Jahr 1428 immer wieder geführt worden.

Samstag, 28. März 2009

Wochenrückblick

Seit Jahren wird in diesem Land gestritten über Einführung oder Nichteinführung einer privaten Bundesbahnpolizei. Seit Jahren wird in diesem Land gestritten über Kompetenzen und Nichtkompetenzen eines derartigen Sicherheitsdienstes. Seit Jahren wird in diesem Land gestritten darüber, ob es gut oder schlecht ist, Schusswaffen einsatzbereit auf sich zu tragen.

Nun ist die Sache vom Tisch, eine "unheilige Allianz von SP und SVP" habe "das Gesetz über die Sicherheitsorgane der Transportunternehmen mit 99 zu 85 Stimmen versenkt", lese ich. Dies bedeutet konkret, dass sich die Mitarbeiter der SBB-Tochter Securitrans bei ihrer Arbeit weiterhin an Bestimmungen aus dem Jahr 1878 zu halten haben.

Wer wissen will, was das "Bundesgesetz zur Handhabung der Bahnpolizei" vom 18. Februar 1878, in Kraft getreten am 15. Juni 1878 festlegt, kann es hier nachlesen:
http://www.admin.ch/ch/d/sr/7/742.147.1.de.pdf

Donnerstag, 26. März 2009

Mein Willisau II

Jetzt weiß ich, warum man hier "Chottu" (für Kottwil) sagt, aber "Ettiswiiu" (für Ettiswil); "Ruusmu" (für Ruswil) aber "Rüediswiiu" (für Rüdiswil); "Waauwu" (für Wauwil) aber "Egolzwiiu" (für Egolzwil); "Hergiswiiu" (für Hergiswil), aber "Tääju" (für Daiwil); "Oberwiiu" (für Oberwil), aber "Hüüsu" (für Hüswil); "Tietu" (für Dietwil), aber "Reiferswiiu" (für Reiferswil); "Wüschiswiiu" (für Wüschiswil), aber "Blochbu" (für Blochwil).

Es gibt Gesetzmäßigkeiten, auch in der Mundart. Es unterliegt keiner Willkür, wann eine Ortsnamensendung -wil verschwindet (= sogenannte Reduktionsregel) und wann sie sich auf die Dialektaussprache von -wil, also -wiiu beschränkt:

Wenn der erste Wortteil des Ortnamens zweisilbig ist, bleibt der zweite Teil mehr oder weniger unverändert (-wil = "-wiiu").

Wenn aber der erste Wortteil einsilbig ist, reduziert sich der zweite Teil zu -el. Da im Luzerner Hinterland das "l" zu "u" vokalisiert wird (wie, nebenbei bemerkt, das harte "l" in allen slavischen Sprachen, zB im Polnischen, wo es geschrieben so aussieht: "ł" - was immer wieder zu Konfusionen führt, da gewisse Profis im Buchdruckergewerbe meinen, es handele sich um ein korrigiertes, also durchgestrichenes oder eliminiertes "l"), entsteht hier ein reines "u".

Mittwoch, 25. März 2009

Mein Basel II

Bin über den Münsterhügel gelaufen. Oben nix Neues, außer dass am Münster die Münsterbauhütte wohl nie ihre Zelte abbaut. Der Himmel über der Pfalz sah zum Fürchten aus. Die kleinen Läden am Münsterberg haben sich allesamt in blühende Kinderschuhparadiese verwandelt. Da soll noch einer von Überalterung der Gesellschaft sprechen! Obwohl auf der anderen Seite, beim Abstieg zur Mittleren Rheinbrücke, am Rheinsprung wie eh und je die bunten Kondome im Schaufenster der Condomeria leuchten. Strom gibts hier Tag und Nacht mehr als genug.

Montag, 23. März 2009

Der Schuhmacheraltar

Neue Woche, alte Frage: wo ist das Werkzeug des heiligen Crispin abgeblieben?

Der Schuhmacheraltar in der Heilig Blut Kirche in Willisau: Der Inschrift nach zu urteilen (Mitte, unten, hinter der Muttergottes mit dem Leichnam Jesu auf dem Schoße: "Bruderschaft der h.h. Martyrer Crispini und Crispiniani, Anno 1678") handelt es sich bei der rechten Figur (vom Betrachter aus gesehen) um den heiligen Crispinian, bei der linken um den heiligen Crispin (mit Vollbart). Crispinian hält demnach den Schuhmacherhammer in seiner rechten Hand vor der Brust. Crispin hält sein Werkzeug, wie man sieht, nicht mehr in der Hand. Seine rechte Hand ragt leer in die Luft. Die Hand- und Fingerstellung deutet darauf hin, dass die Hand so gemeißelt oder geschnitzt wurde, dass ein Werkzeug zwischen die Finger und in die Handfläche passt. Beide Schuhmacherpatrone halten in ihrer linken Hand den typischen Palmwedel - zum Zeichen des überstandenen Martyriums.

Beide sehen gut genährt und fröhlich aus. Beide tragen schöne Gewänder und schöne Stiefel. Und beide ziert, wie alle anderen Heiligenfiguren an diesem Ort, ein stachliger Heiligenschein.

Sonntag, 22. März 2009

Sonntagsgebet

Seit ich in der Schweiz bin, suche ich etwas, das mich an früher erinnert. Etwas zu essen. Ich bin nicht hungrig. Nicht heißhungrig und nicht ausgehungert. Ich möchte nur gerne etwas zwischen den Zähnen, auf der Zunge, im Gaumen spüren, das mich an früher erinnert. Das mich im guten Sinne an früher, zum Beispiel an den Pfauenhof in Liestal erinnert. Bisher habe ich nichts gefunden. Das Brot schmeckt anders, die Milch schmeckt anders, die Schokolade schmeckt anders. Es gibt nichts mehr zu essen in diesem Land, dachte ich schon, das so ist wie früher. Es ist ja auch kein Wunder. Die Zeiten ändern sich und die Gewohnheiten ändern sich. Ganz zu schweigen von Gesetzen, Umwelteinflüssen, Werbeversprechen, Konsumententäuschen, erlaubten und unerlaubten Tierquälereien wie Kastenstandhaltung von Mutterschweinen oder Zwangsfütterungen, etwa einem gewaltsamen Einpressen von Futterbrei durch ein Rohr direkt in den Magen von Enten und Gänsen und so weiter.

Gestern Mittag fand ich auf der Hauptgasse vor dem Rathaus, was ich gar nicht mehr suchte. Zuerst war es nur das Wort. Es lag unschuldig und handgeschrieben über der Kilopreisangabe auf einem Zettel in einer Apfelkiste: "Glockenapfel". Ich schmeckte ihn auf der Zunge, bevor ich ihn in die Hand nahm und daran roch. Dann war es der Apfel selbst. Ich biss hinein. Der Glockenapfel. Ein Winterapfel. Ein Zufallssämling. Wie früher! Bei der Bürner Großmutter! Der Hellerhofbauer war schon am Zusammenpacken. Er verkaufte mir die Glockenäpfel von der Ladefläche seines Kleinlasters. Und gab mir seine Prognose zur Bisluft mit auf den Heimweg.

Ein Glockenapfel liegt jetzt immer neben meinem Computer. Damit ich ihn läuten kann, wenn der Text nicht mehr weiter will oder sich nicht an seine Umgangsformen hält. Mit dem Glockenapfel bringe ich meinen Text zur Räson. So wie Nationalratspräsidentin Chiara Simoneschi-Cortesi mit ihrem Glöckchen die Parlamentarier zur Räson bringt und rhetorische Eskapaden abstraft. Sie hat im Gegensatz zu mir noch ein zusätzliches Mittel zur Hand: sie kann den Herren und Damen, wenn sie denn nicht Hören wollen, das Fühlen beibringen. Und ihr Mikrofon abstellen.

Samstag, 21. März 2009

Meine Schweiz III

Ein CVP-Nationalrat sagte vor ein paar Tagen im Nationalratssaal: «Peer Steinbrück definiert das Bild des hässlichen Deutschen neu. Er erinnert mich an jene Generation von Deutschen, die vor sechzig Jahren mit Ledermantel, Stiefel und Armbinde durch die Gassen gegangen sind.»

Dieser Herr Nationalrat hat ein sehr kurzes Gedächtnis.

Erstens sind die von Herrn Nationalrat so genannten "hässlichen" Deutschen nicht vor sechzig Jahren "durch die Gassen" gegangen. 1949? Wo denn?

Zweitens sind die von Herrn Nationalrat so genannten "hässlichen" Deutschen vor siebzig bis fünfundsechzig oder gar vierundsechzig Jahren von Schweizer Bankiers und Schweizer Regierungsvertretern in makellos weißen Hemdkragen mit offenen Armen empfangen worden.

Hätte die offizielle Schweiz im zweiten Weltkrieg nicht erfolgreich als Hitlers Hehler funktioniert, wäre der Krieg wahrscheinlich ein paar Monate, wenn nicht Jahre früher zu Ende gewesen und das Leben einiger Hunderttausend, wenn nicht Millionen hätte gerettet werden können. Die deutsche Kriegsmaschinerie wäre ausgetrocknet, irgendwann hätte ihr schlicht das Bargeld gefehlt, wenn niemand mehr ihr schmutziges Gold entgegen genommen und gegen eine frei konvertierbare Währung umgetauscht hätte.

Schon damals galt in der Schweiz, was heute wieder gilt: "beggar thy neighbour."

Die Schweiz ist ein traditionalistisches Land. Die Tradition, mehr oder weniger schmutziges Geld in der ganzen Welt einzusammeln, hat sich, wie wir alle wissen, unverändert bis heute erhalten.

Freitag, 20. März 2009

Meine Schweiz II

Die Schweizer Zentralbank hat, damit die Schweiz ihre Waren besser exportieren kann, den Kurs des Schweizer Franken künstlich gesenkt.
Dadurch schwächt die Schweiz die Weltwirtschaft. Und damit stärkt die Schweiz die Schweizer Wirtschaft. Dies nennt man Protektionismus.
Protektionismus ist das Gegenteil von freier Marktwirtschaft.
In Englisch (manche verstehen ja besser englisch als deutsch): "beggar thy neighbour". Allgemein verständlich übersetzt: "selber überleben, indem man den Nachbarn in Armut stürzt".

Die Schweiz hat als erstes Land in der momentanen weltweiten Finanzkrise die internationale Solidarität aufgekündigt. Aus Selbstzweck. Aus unverhohlenem, lächelndem, ewig freundlichem Egoismus.

Die Schweiz behauptet, sie wolle dadurch nur die Inflation im eigenen Land bekämpfen. Dass dies Auswirkungen auf andere Länder habe, sei nicht beabsichtigt.

Donnerstag, 19. März 2009

Mein Willisau

Die halbe Stadt ist in der Kirche zusammengekommen, um dem Schneebrettopfer vom Napf die letzte Ehre zu erweisen. Junge Menschen stehen schon eine Stunde vor Beginn des Gottesdienstes um die Kirche herum, umarmen sich, weinen, trösten sich, ziehen weiße Taschentücher hervor, schiefen, putzen sich die Nasen, warten, schweigen, verteilen Blumen. Die Sonne scheint. Der Schnee hier unten ist längst verschwunden. Die Bauern auf Vorberg haben ihre Gülle ausgefahren. Es ist heute unvorstellbar, dass einer von Schneemassen, hart wie Beton, vor erst einer Woche erdrückt wurde.
Wohlgemerkt: es war dunkel. Und mitten in der Nacht. Natürlich stelle wieder nur ich die Frage, warum man eigentlich nachts, auch wenn Vollmond ist, Schneeschuhwandern muss. Warum man das nicht tagsüber tun kann. Warum dieses Land so überheblich geworden ist. Wo die Demut, die Selbstkritik, die Selbstzweifel, ja vielleicht ein bisschen Gottesfurcht abgeblieben ist. Es gibt nur noch Machtanspruch. Und zwar einen absoluten. Wir, sagen hier alle außer mir, herrschen über den Tag und die Nacht. Um jeden Preis.

Mittwoch, 18. März 2009

Mein Basel

Der Formonterhof wird von außen renoviert. Bis zu 14 Farbschichten müssen an einzelnen exponierten Stellen des Gebäudes an Vor- und Rückfassade sowie an den beiden über die Nachbarhäuser hinausragenden Giebelfassaden entfernt werden. Sie werden ersetzt durch einen Neuanstrich im bisherigen Ocker-Farbton, welchen die Denkmalpflege als Originalfarbton des Berri-Umbaus erkannt hatte. Seinen Namen hat der Formonterhof vom französischen Adligen Graf Jean Formont de la Tour. Seine Witwe erwarb das bestehende Anwesen an der heutigen St. Johanns-Vorstadt 27 im Jahr 1729 und ließ auf zwei gotischen Vorgängerbauten ein neues Haus erstellen.
Über die Fahrt mit der SBB schweige ich höflich [...]. Anmerken kann ich in diesem Zusammenhang, dass ich mich nach den gepflegten Kurz- oder Langkombinationen der NOB sehne, in denen es einen nie ekelt, die Toilette zu benützen. Auch sehne ich mich nach geputzten Fensterscheiben. Und nach einem einzigen, kurzen Augenblick im fahrenden Zug jenseits (von Hamburg Richtung Sylt fahrend) des Nordostseekanals. Positiv ist, dass ich in Sursee aus der SBB aussteige und in den letzten Bus über Kottwil nach Willisau einsteige. Dieser Bus bringt mich bis fast vor die Mühlentür.

Dienstag, 17. März 2009

Meine Schweiz

Ich habe mir vorgenommen, nur noch Positives zu berichten. Ansonsten zu schweigen. Heute: Sonne. Erster Spaziergang durch den schneefreien Guonwald oder die Hirseren hoch durch die Höll auf Vorberg, Vorberg Schlössli, Mätteberg, Mörisegg bis zur Oberen Scheimatt. Nach der Rückkehr holte ich den Willisauer Boten ins Atelier hoch und entnahm ihm, dass die Gulp weiblich ist. Die Gulp liegt gegenüber von [dem oder der?] Guon am anderen Hügel, im Tal zwischen den beiden Hügeln ist Willisau eingegraben. Von der Gulp stammt die Mutter der Hauptfigur meines Buches, und von Guon der Vater.

Montag, 16. März 2009

Mein Garten

W. schickt Fotos vom Garten. Hier eine Ecke am Eingang zur einen Haushälfte.

Schneeglöckchen schießen aus dem Boden ohne mein Zutun. Tulpen schießen aus dem Boden ohne mein Zutun. Osterglocken schießen aus dem Boden ohne mein Zutun.

Und die Steineule mit den Metallaugen und Metallohren wartet geduldig. Ohne mein Zutun. Auf ihre lebendigen Artgenossen, die Waldohreulen.

Sonntag, 15. März 2009

Zentralschweizer Literaturtage 2009

10:00 – 12:15 Stadtmühle Willisau - Lyrik Matinee
Luisa Canonica (Breganzona)
Pater Eugen Bollin (Kloster Engelberg)
Katharina Lanfranconi (Luzern)
Ueli Schenker (Meggen)
Eugen Rumi (Alberswil)

12.30-14.00 Stadtmühle Willisau - Vier beste Bücher
Literaturkritikerinnen und -kritiker besprechen ihre Lieblingspublikation des Jahres 2008 aus der Zentralschweiz: Urs Bugmann, Josef Bättig und Beatrice Eichmann-Leutenegger besprechen unter der Leitung von Stefan Zollinger
- "Die falsche Herrin" von Margrit Schriber
- "Ob und darin"von Lisa Elsässer
- "Nur Gutes" von Erwin Koch
- "Der Schatten des Pfarrers" von Andreas Iten.

Samstag, 14. März 2009

Zentralschweizer Literaturtage 2009

10:15 Stadtmühle Willisau - Prominente Gäste im Gespräch
Marco Meier (Programmleiter SR DRS2) im Gespräch mit Andreas Iten (Präsident ISSV). Thema: Kultur in den Medien.

13:30 bis 18:15 Stadtmühle Willisau - Sechs Lesungen
13:30 Peter Stobbe (Vaduz)
14:15 Gertrud Leutenegger (Zürich)
15:00 Alex Melzer (Laufenburg bei Basel)
15:45-16:00 Pause
16:00 Verena Stössinger (Binningen bei Basel)
16:45 Martin Stadler (Schattdorf)
17:30 Judith Arlt (Ateliergast der Stadtmühle Willisau und Autorin aus Meldorf, Norddeutschland)

20:00 Rathausbühne Willisau - Trägt nicht alles was uns begeistert die Farbe der Nacht (Novalis)
Szenische Lesung der Siegergeschichten aus dem Kurzgeschichten-Wettbewerb der Zentralschweizer Literaturtage 2009. Sprecherin: Karin Wirthner (Schauspielerin). Sprecher: Frank Demenga (Schauspieler)

Donnerstag, 12. März 2009

schwarzrot

Ich kann es mir leisten, mich mit einem Unbekannten in der Lobby eines Hotels in den Glarner Nationalfarben zu treffen. Ich kann es mir in jeder Hinsicht leisten. Mit meinen grauen Haaren, mit meinem momentanen monatlichen Einkommen, mit meinem GA, mit meinen Plänen, mit meinem Kopf, mit meinem Herzen. Nie aber würde ich, Alter, Falten, Bankkonto, Ehrgeiz oder Kalkül hin oder her, auf die Idee kommen, als erstes einen Unbekannten in dessen Wohnung zu begleiten.
Was an der heutigen Pressekonferenz zur Tötung einer 16-Jährigen bekannt wurde, erschüttert mich aus anderen Gründen als den Rest dieses Landes. Das öffentliche Geschrei um Verwahrung, falsche psychiatrische Prognosen, Versagen der Bewährungshilfen, Pannen bei der Echtzeitüberwachung bzw. rückwirkenden Überwachung des Handys des Opfers, Forderungen nach einem nationalen Alarmsystem bei Entführungen usw. ist für mich pures Ablenkungsmanöver. Schaumschlägerei. Viel Lärm um nichts. Die volle Handyüberwachung hätte das Leben der 16-Jährigen nicht gerettet, denn sie war tot, ehe sie als vermisst gemeldet wurde. Das nationale Alarmsystem hätte aus demselben Grund nicht gegriffen. Die junge Frau wurde nicht entführt, sondern ging freiwillig mit. Sie wurde weder betäubt noch vergewaltigt, sondern erschlagen.
Der vorbestrafte Täter stand unter zeitnaher Betreuung. Wegen seiner erneuten Drogenprobleme war mit seinem Einverständnis eine stationäre Behandlung in Betracht gezogen worden. Der spätere Täter war bereits auf dem Weg zu einem entsprechenden Gespräch in die "auf Suchtkranke spezialisierte Klinik Neuenhof" bei Baden. Da er "zu spät" kam, wie es heißt, wurde das Gespräch vertagt - auf den 10. März. Dies ist die einzige fatale Fehlentscheidung, die ich der Bewährungshilfe anlasten könnte, wenn dies denn meine Sache wäre. Ich kann und will mir nicht vorstellen, dass in einer "auf Suchtkranke spezialisierten Klinik" nicht rund um die Uhr ein Ansprechpartner vorhanden ist. Sonst verdient diese Klinik diese Bezeichnung nicht.
Man lenkt hierzulande gerne von den eigenen, inneren Problemen ab. Das sieht, wer es sehen will, beim sogenannten "Steuerstreit" UBS/USA in großen (internationalen) Dimensionen. Und das sieht, wer es sehen will, jetzt anlässlich dieses Kapitalverbrechens in etwas kleineren (nicht einmal nationalen, sondern föderalistisch-kleinlichen, kleinstaatlichen) Dimensionen.
Was um Himmels willen treibt junge Frauen, sich beim ersten Kontakt mit einem unbekannten Mann sofort bereit zu erklären, an dessen Wohnort zu reisen und sich in dessen Wohnzimmer zu setzen? Angeblich hat der Täter seit Ende August 2008 30 Frauen angesprochen, von denen etwa "5 - 10" bis in die Wohnung mitgegangen seien. Das müsste in einem aufgeklärten Land wie der Schweiz zu denken geben. Von den angesprochenen Frauen geht rund die Hälfte mit (Dunkelziffer einmal miteingerechnet). 5 - 10 junge Frauen - zwei davon, wie ich lese, bei ihrem "ersten Ausgang" aus der Provinz in die Großstadt - lassen sich von einem x-beliebigen Typen anquatschen, glauben blind, was der erzählt, steigen mit ihm in den Zug nach Baden, dort in den Bus nach Rieden und gehen noch ein Stück zu Fuß und schließlich die Treppen in den zweiten Stock hoch bis zu seiner Wohnungstür. 5 - 10 Frauen fallen auf den Trick eines Fotoshootings und das Versprechen, schnell viel zu verdienen, herein. 5 - 10 Frauen haben mindestens eine halbe bis maximal ganze Stunde Zeit (so lange dauert überschlagsmäßig der Weg vom Zürcher Hauptbahnhof bis zur Wohnung des Täters), erstens diesen Entschluss zu überdenken, zweitens das Gegenüber genauer anzuschauen, drittens wegzulaufen. Keine tut es offenbar, nachdem sie einmal zugesagt hat, mitzugehen. Zu groß ist ... - ja was denn? Der Wunsch, berühmt, geliebt, begehrt, angesehen, reich zu werden?
Himmelnocheinmal, in welcher Gesellschaft wachsen diese Frauen auf? Was geht in ihren Köpfen und in ihren Herzen vor? Warum funktioniert hier kein Warnsystem? Warum erkennen sie weder eine Gefahr noch die Hochstaplerei? Warum haben sie nicht gelernt, zwischen potentiell eher Drogen konsumierenden Männern und potentiell eher als Modefotografen arbeitenden Männern zu unterscheiden? Warum machen sie nicht einmal vor dem Haus Halt, in dem der Mann wohnt, und das überhaupt nicht danach aussieht, als würde es ein Fotostudio beherbergen? Warum machen sie nicht wenigstens vor der Wohnungstür Halt?
Was um Himmels willen geht in diesem Land vor? Die Justizministerin will nun ein Alarmsystem einführen, das weiter geht, als das französische Vorbild. Klar. Die Schweizer waren immer schon besser als alle anderen.

Wohlgemerkt: der Täter hat "nur" eine dieser Frauen umgebracht, die letzte. Und natürlich ist dieser gewaltsame Tod eines so jungen Menschen sinnlos und überflüssig. Und natürlich hätte er verhindert werden können, ja müssen. Von verschiedenen Seiten. Angeblich, so der Täter, tötete er, weil er zurück in den Knast wollte. Vielleicht tötete er, weil man ihn tags zuvor abgewiesen hatte. Nur weil er zu spät kam. Und: obwohl er kam.

Mittwoch, 11. März 2009

Superlative

Glarus ist die Bezeichnung für einen Schweizer Kanton sowie für dessen Hauptstadt. Die Stadt Glarus ist die kleinste Hauptstadt der Schweiz. Nach dem verheerenden Brand von 1861 wurde sie quadratisch, mit Straßenkarrees wie in New York, wieder aufgebaut. Das Glarnerland ist eines der steilsten Alpentäler der Schweiz. Das Wappen des Kantons Glarus zeigt als einziges Kantonswappen einen Menschen: den heiligen Fridolin mit Wanderstab und Bibel. Die Stadt Glarus liegt im Schatten des rund 2300 m hohen Vorderglärnisch. Dieser wurde 1655 als erster Berg naturgetreu auf Papier gebannt, vom Atlantenmaler Jan Hackaert in einer großartigen Panoramaansicht. Im letzten Sommer wurde die Tektonikarena Sardonia, dazu gehören u.a. das Martinsloch und die Tschingelhörner, mit der Aufnahme ins UNESCO-Welterbe als weltweit einzigartig ausgezeichnet.

Der Kanton Glarus ist als erster Schweizer Kanton dabei, seine Gemeindestruktur radikal zu reformieren. Die heute noch 25 Ortsgemeinden, 18 Schulgemeinden, 16 Fürsorgegemeinden und 9 Tagwen (auch das ein Glarner Unikum, siehe Verfassung des Kantons Glarus, SR 131.217 Art. 123, der Tagwen besteht aus den Tagwensbürger, andernorts einfach Bürgergemeinde) sollen bis zum 1.1.2011 zu den 3 Großgemeinden Glarus Nord, Glarus Mitte und Glarus Süd zusammen geschlossen werden. Die Glarner sind als hitzige Streithähne bekannt, also erzwang das Glarner Stimmvolk im Rahmen der Abstimmungen zur Gemeindestrukturreform die erste außerordentliche Landsgemeinde seit 120 Jahren. Die Reform wurde trotzdem angenommen und schreite nun "zeitgemäß" voran, wie im Internetauftritt GL2011 nachzulesen ist. Kürzlich machten Schlagzeilen die Runde, dass mehr als die Hälfte der Gemeinden vor dem Zusammenschluss und dem damit verbundenen Machtverlust noch einmal aus dem Vollen schöpfen. Es sollen ja nicht nur 6 Mio Ausgaben eingespart, sondern auch 330 Gemeinderäte abgesetzt werden. Und diese budgetieren, solange sie noch das Sagen haben, fröhlich rote Zahlen, senken Steuern, bewilligen Investitionen ... Die Kantonsregierung sprach prompt ihr Machtwort, nannte das Vorgehen einen "inakzeptablen kurzfristigen Vermögensverzehr" und setzte alle Beschlüsse von Orts-, Einheits-, Schul- und Bürgergemeinden außer Kraft.

In Glarus wurde am 13. Juni 1782 die "letzte Hexe" Europas, Anna Göldi hingerichtet. Im März 2007 lehnten sowohl die Glarner Kantonsregierung wie auch der reformierte Kirchenrat eine Rehabilitation Anna Göldis anlässlich ihres 225. Todestages ab mit der Begründung, sie sei im Bewusstsein der Glarner Bevölkerung längst rehabilitiert. Am 7. November 2007 überwies der Glarner Landrat eine Motion an den Regierungsrat mit dem Auftrag, Anna Göldi zu rehabilitieren. Am 10. Juni 2008 beschloss der Regierungsrat, Anna Göldi 226 Jahre nach ihrer Hinrichtung vom Tatbestand der «Vergiftung» zu entlasten. Zugleich stellte die Regierung dem Parlament den Antrag, den Prozess vom Juni 1782 als Justizmord zu bezeichnen. Am 27. August 2008 genehmigte der Glarner Landrat einstimmig und ohne Diskussion den Beschluss der Regierung. Er anerkannte, dass das damals gefällte Urteil in einem nicht rechtmäßigen Verfahren zustande gekommen und Anna Göldi Opfer eines Justizmords geworden war.

Dienstag, 10. März 2009

rotschwarz

Wie verabrede ich mich mit einem Mann, den ich nicht kenne in der Lobby eines großen Hotels in einer großen Stadt in der großen Schweiz?
Er teilte mir "für alle Fälle" seine Mobilfunknummer mit.
Ich teilte ihm, da ich gerade Mobiltelefonlos lebe, meine Kleiderordnung mit: Schwarzer Mantel, roter Schal sowie, falls es weiterhin schneien sollte, rote Winterschuhe und schwarze Hose.
Er bedankte sich mit einer Lektion Farbenlehre: in der Schweiz seien die Farben rot und schwarz die Glarner Farben.
Ich war wie vom Donner gerührt. Schließlich bin ich, trotz Heirat mit einem Deutschen (heute vor 183 Monaten), immer noch Schweizer Bürgerin, heimatberechtigt in Glarus - und wusste das nicht. Oder anders gesagt: ich war mir bis gerade eben nicht bewusst, was ich zur Schau trage, wenn ich rot und schwarz kombiniere. Ich besitze sogar, ein Geschenk meiner mich umsorgenden Schuhfrau, eine zweifarbige, rotschwarze Strumpfhose, die ich nur zu ganz besonderen Anlässen trage und zu der ich seit langem ein passendes zweifarbiges Schuhpaar suche - nämlich einen reinschwarzen rechten und einen reinroten linken Schuh der gleichen Größe und Marke. Hier stößt sogar meine Schuhhändlerin an ihre Grenzen.

Montag, 9. März 2009

36 ö's

W. schickte mir zum Trost per Mail 36 ö's in einem Wort. Per Videotelefon streiten wir am frühen Morgen darüber, wie ein ö im Plural korrekt geschrieben wird. Ob es die "ö's" sind (wie ich meine). Oder die "öes" (wie er meint). Ich behaupte, da sei kein "e" im Spiel und bleibe bei meiner Version. Den Apostroph setze ich als graphische Hilfestellung. Um Verwechslungen mit Ösen oder dösen (Synonym von schlafen) resp. Dösen (Plural von Dose) zu vermeiden.

Dann meint er, um auf das Wesentliche zurückzukommen, ich sei überempfindlich. Und ich zähle ihm ungerührt alle Ösen auf, die ich in der Werkstatt meiner Schuhmacherin gefunden habe: weiße, blaue, braune, rote Ösen 42x45; Bronzeösen 42x45, 50x65; schwarze Ösen in ganz anderen Größen: 50x58, 42x50; Goldösen 42x45, 80x60 m. GR; Nickelösen 42x50, 80x60, 42x45 m. GR; Ösen bronziert 50x58; Ösen brüniert 50x50, 42x45, 80x60; Bronzeösen m. GR 42x45 sowie neben Karabinerhaken und Jeansknöpfen auch Ösen blank.

Dann erkläre ich meinem Tröööööstebuddha, dass es für mich einfacher wäre, vier Monate zum Beispiel in Jordanien am toten Meer zu verbringen, als vier Monate in der Schweiz. In Amman, sage ich, würde ich einen Arabischintensivkurs belegen und könnte täglich von jeder beliebigen Straßenecke sowie entlang des Highways durch alle Kontrollpunkte hindurch weitere erhebende Gefühle einsammeln. Ich würde vier Monate lang jeden Tag aufs Neue die Bestätigung bekommen, dass ich etwas mehr von der Welt verstehe. In der Schweiz hingegen, beharre ich und er kann mir nicht mehr widersprechen, ist es leider umgekehrt.

Sonntag, 8. März 2009

Der Rasenmäher III

Wahrscheinlich begann alles viel früher. Als ich vor Wochen vor dem Schreibwarenladen aus einer Ausverkaufskiste zufällig die passende Geburtstagskarte für W. herausfischte. Und danach im Laden umständlich nach dem richtigen Geschenkpapier suchte, um das richtige Geschenk zur Karte darin einzuwickeln. Und nach einem Geschenkpapierband in der richtigen Farbe. Und noch einen Moment mit der Buchhändlerin sprach, die gerade vom oberen Stock heruntergekommen war und mich fragte, wie es ginge. An der Kasse wurde mir ein horrender Preis abverlangt. Ich zahlte, ohne mit der Wimper zu zucken, da ich gerade dabei war, mich darin zu üben, horrende Preise in diesem Land zu bezahlen, ohne mit der Wimper zu zucken. Dann zögerte ich doch, und fragte irritiert nach. Die Kassiererin entschuldigte sich auf der Stelle und gab mir zehn Franken auf die Hand zurück. Normalerweise, sagte sie, würden die Kunden mit den verbilligten Artikeln aus der Ramschkiste draußen drinnen sofort zur Kasse kommen. Dann seien die herabgesetzten Waren - in meinem Fall eine schlichte Geburtstagskarte, kaum der Rede wert - eiskalt und sie würde in den Fingerspitzen spüren, dass es sich um einen reduzierten Preis handle.

Ich kann mich nicht entsinnen, wohin ich damals meine Verzweiflung getragen hatte. Wahrscheinlich nur gerade um die Ecke in den dritten Stock. Hinter die Fenster über den Buchstaben "Stadtmühle". Ich musste mich schon damals an einem Ende meiner Welt ziemlich heftig gestoßen haben. Ich musste mir irgendwo einen oder mehrere blaue Flecken zugezogen haben. Am Oberarm oder mitten auf der Stirn. Ohne es zu merken. Wahrscheinlich war der Kopf mit anderem beschäftigt. Oder die Seele abgelenkt, betört. Jetzt kommt die Verzweiflung doppelt und dreifach hoch. Ich bin nicht mehr kompatibel! Ich ertrage weder diese aufrichtige Freundlichkeit noch diese selbstgerechte Denkweise. Ich widerstehe der Versuchung, eine bösartige Frage zu stellen und pflege mein Nordseeheimweh. Ich habe Heimweh nach der Fremde. Ich sehne mich nach dem alten Rasenmäher, den die Vorbesitzer der einen Haushälfte in der Garage am Wattenmeer stehengelassen hatten.

Samstag, 7. März 2009

Der Rasenmäher II

Das Rasenmäherheimweh begann damit, dass W. das Ladegerät für sein Mobiltelefon hier liegen gelassen hatte. Er wird erst an Ostern wiederkommen, bis dahin hat sein Telefon längst keinen Saft mehr. Also lief ich zur Post, kaufte eine Packung Luftpolsterumschläge, riss die dünne Zellophanhülle auf, steckte in einen der Umschläge das Ladegerät, klebte die Adressetikette und eine Zollerklärung darauf, und reihte mich ohne zu murren in die Wartenden vor den beiden offenen Schaltern ein.

Erst als ich wieder in der Mühle war, wunderte mich, dass ich für ein paar Postkarten, drei Briefe und einen Maxibrief Priorität Europa über fünfunddreißig Franken bezahlen musste. Ich studierte die Quittung, die mir auch diesmal, wie schon unzählige Male zuvor an anderen Orten, liebevoll und akkurat zusammengefaltet mitgegeben worden war. Die Dame an Schalter 4 hatte mir für eine Packung Luftpolstertaschen 4 x 3,50 berechnet. Wahrscheinlich, weil ich die Packung, bevor ich sie bezahlte, schon aufgerissen hatte. Weil sich ursprünglich und korrekterweise vier einzelne Luftpolstertaschen in der Originalverpackung befunden hatten. Weil ich eine der vier herausgenommen hatte und damit ein übersichtliches Ganzes zerstört und in seine unübersichtlichen - aber nur so praktisch verwendbaren! - Einzelteile aufgelöst hatte. Nur weil ich das einpackte, was ich wegschicken wollte. Wahrscheinlich, weil ich mich falsch verhalten hatte. Ich habe keine Ahnung, was ich hätte tun müssen, um mich richtig zu verhalten. Und mir wurde schlagartig klar, wie sehr ich hier nicht mehr zu Hause bin. In diesem wohlgenährten Land. Ich verstehe seine Sprache nicht mehr. Und sei es auch nur die Körpersprache. Die Umgangssprache. Die Verhaltenssprache.

Ich lief noch einmal zur Post und bekam zehn Franken und fünfzig Rappen auf die Hand zurück erstattet. Die Auszubildende an Schalter 4 hatte gemeint, wenn 4 Stück in einer Packung drin sind, müsste sie den gescannten Preis entsprechend multiplizieren. Das kann überall passieren. Der mathematische oder logische Fehler ist nicht das Problem. Das Problem bin ich. Das Problem ist, dass ich an diesem Punkt an meine Grenze gestoßen bin. Ich bin hier unwiderruflich fremd.

Freitag, 6. März 2009

Der Rasenmäher

Ich träumte in der Nacht, ich sei zu Hause am Wattenmeer und würde, wie alle unsere Nachbarn, Rasen mähen. Das Gras war in allen Gärten hochgeschossen. Es herrschte ein fröhliches Treiben rundum.
Ich erwachte am Morgen und es war noch dunkel. Ich sah, dass der Platz vor der Kirche schneeweiß war.

Es schneit den ganzen Tag. Unablässig. Der Schnee bleibt nicht liegen, auch rund um die Kirche nicht und nicht auf den Treppenstufen, die zur Kirche hochführen. Der Morgenschnee ist verschwunden, ohne dass jemand einen Besen in die Hand genommen hätte. Und ich begreife, dass der Boden schon zu warm ist. Am Nachmittag steige ich aus Vernunft zum Gütsch hoch. Ich brauche frische Luft. Die Rehe sind nicht da, ihnen ist es zu ungemütlich. Ich sehe nichts, nur Nebel. Ein bissiger Wind treibt mir Tränen in die Augen.

W. antwortet auf meinen Traum, dass es ja, natürlich, auch eine Zeit nach Willisau gebe. Und ich begreife, dass ich mich hier eingeschlossen fühle. Hier - in diesem wohlgenährten Land, in dem man sich im öffentlichrechtlichen Rundfunk in schnippischem Ton darüber mokieren darf, dass die MET in NY 2 Original-Chagalls verkaufen muss, den "Triumph der Musik" und den "Ursprung der Musik", um zu überleben. Ich fühle mich geistig eingekerkert und widerstehe der Versuchung, einen Kollegen zu zitieren. Ich habe Heimweh. Ich habe Heimweh nach unserem alten elektrischen Rasenmäher und nach den Verlängerungskabeln, die ich rund ums Haus spannen muss, um in die letzte Ecke des Gartens zu gelangen, unter den Apfelbaum. Dorthin, wo ich letzten Herbst einen Laubhaufen angelegt habe. In der Hoffnung, es mögen sich Igel darin vergraben.

Donnerstag, 5. März 2009

Die Glasfürbittbilder

Heiliger Crispin, bitt für uns - gestiftet von Eugen Meyer.

Bitt für uns, heiliger Crispinian - gestiftet von [durchgestrichener Vorname?] Maurer.

Ob die Stifter wirklich Schuhmacher waren, wage ich zu bezweifeln.

Eugen Meyer mag der Willisauer Ehrenbürger sein, nach dem die Eugen Meyer-Stiftung Willisau benannt ist. Das Wappen, die siebenblütige rote Blume auf gelbem Grund ist das Familienwappen einer Familie Meyer oder Meier von Willisau-Land, Zweig Wellberg.

Der Maurer hingegen, der seinen Vornamen nicht preisgibt, geht auf den Aargauer Bäcker Heinrich Maurer zurück, das sagt mir das Wappen eindeutig. Heinrich Maurer ließ sich nach siebenjähriger Wanderschaft 1846 aus Liebe zu Anna Peyer in Willisau nieder. Er wurde fortan etwas irreführend "Berner Beck" genannt, wohl weil er aus dem Gebiet des alten bernischen Staates stammte. Seine zweite Frau verriet ihm das Hausrezept von Schloss Heidegg und Maurer stellte seit 1850 ein Gebäck her, dem er einen neuen Namen und eine neue Form gab: das Willisauer Ringli. Das Wappen, der schwarze springende Steinbock vor einer weißen Ziegelsteinwand unter tiefblauem Himmel, brachte er mit. Es ist das Familienwappen der Familie Maurer, die ursprünglich in Schmidrued-Walde in der Region Kulm im Kanton Aargau zu Hause war und dort wahrscheinlich gemauerte Häuser errichtete. Der eine Spross, Heinrich, ging fremd und in die Fremde, und wurde Ringlibäcker in Willisau.

Mittwoch, 4. März 2009

Die Männerseitentür

Die Männerseitentür von St. Peter und Paul in Willisau. Direkt über der Tür befinden sich die bunten Glasfürbittbilder des heiligen Crispin (links) und des heiligen Crispinian (rechts). Nahaufahme folgt.

Rechts daneben der heilige Severin (links), der Strenge, und der heilige Alban (rechts), der Weiße oder aus Alba stammende, mit dem eigenen abgeschlagenen Haupt in der rechten, etwas verwunderten Hand und dem Schwert in der linken. Die beiden Köpfe des heiligen Alban, der enthauptete in seiner Hand und der nicht enthauptete auf seinem Hals, unterscheiden sich nur durch die Augen. Der Kopf in der Hand ist tot, die Augen sind geschlossen. Der Kopf auf dem Körper lebt und die Augen sind offen. Angeblich trug Alban den abgeschlagenen Kopf selbst dorthin, wo er begraben sein wollte - nach Mainz.

Severin ist der Patron der Gefangenen, der Leineweber, der Winzer - er sorgt für die Fruchtbarkeit der Weinstöcke. Zu Alban hingegen soll man beten - wen wunderts? - bei Hals- oder Kopfschmerzen, aber auch bei Pest, Epilepsie oder Harnwegerkrankungen.

Dienstag, 3. März 2009

Die abgebildete Welt

Wer vorgestern mitgewandert ist durch die abgemessene Welt, bekommt hier von Bernhard Granwehr die genaue Karte.

Mit Dank an die Technik und die Elektronik!

Montag, 2. März 2009

Die abgemessene Welt

Wer gestern mitgewandert ist durch die Welt der Schuhfrau, ihrer Vorfahren und meiner literarischen Figuren, bekommt hier von Bernhard Granwehr die technischen Daten:
Start: Menznau, Pfisterhaus
Wegstrecke: 15.1 km
Wanderzeit: 3 h 32
Pausen: Total 1 h 07 (ohne Warten auf Postauto!)
1. Halt: 11 Min.
2. Halt mit Lesung: 57 Min. Ort: Vorder Wellbrig (KO 644878/219441 – SwissGrid)
Ende: Kottwil, Dorfausgang

Sonntag, 1. März 2009

Sonntagslesung


Wie immer am ersten Sonntags des Monats war ich mit meiner Schuhfrau wandern. Diesmal kamen etwa 113 andere mit. Und die Schriftstellerin meiner Schuhfrau las auf dem Wellbrig ein paar Seiten aus dem Manuskript.

Sonntagspublikum


Die etwa 113 Sonntagsmitwanderer (nicht alle passten in den Bildausschnitt) bei der Rast auf dem Wellbrig.

Samstag, 28. Februar 2009

Die Uraufführung

In Willisau fand gestern Abend die Uraufführung einer Komposition von Arvo Pärt statt. Allein dies ist eine Meldung wert. Das Stück trägt den Titel "Sei gelobt Du Baum" und dauert etwa zweieinhalb Minuten. Das ist auch eine Meldung wert. Um die Uraufführung herum wurde ein abendfüllendes Konzert gestaltet. Mit Werken vom 8. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Auch dies ist eine Meldung wert.

Der Text zur Komposition, das Gedicht "Sei gelobt, du Baum!" wurde in Willisau geschrieben. Dies ist gewiss auch eine Meldung wert. Die Autorin Viivi Luik stammt wie Arvo Pärt aus Estland. Sie war die erste Stipendiatin in der Stadtmühle Willisau. Gewiss ist auch das eine Meldung wert. Pärts zweieinhalb Minuten lange Komposition beginnt mit langen Pausen. Das muss man gehört haben. Sie setzt an mit vereinzelten, gezupften Saitentönen. Kontrabass oder Violine. Auf jeden Ton folgt eine mindestens doppelt so lange Pause. Dies ist eine nächste Meldung wert. Das Ästhetische der Stille. Der Geduld. Komponiert wurde das Stück für ein Instrument, das aus einem zweieinhalbtausend Jahre alten Holzstück gebaut wurde. Für die Quinterne. Und das ist eine weitere Meldung wert.

Der Baum stammt aus meiner Heimat. Aus dem Baselbiet. Dies ist mir eine private Meldung wert. Er war eine Weißtanne, die mit stolzen 200 Jahren bei einem Erdrutsch im Jahr 317 vor Christus gefallen sein muss. Man nimmt an, dass ihr Holz mit Lehm überdeckt wurde. Deshalb ist es heute so wie es ist. Gut konserviert. Ein vorzügliches Klangholz. Astlos, gerade und feinjährig gewachsen. Es wurde bei einem Brunnenbau im Jahr 1962 auf dem Weingut Tschäpperli in Aesch gefunden. Das Holz fiel 2001 der richtigen Frau in die Hand. Einer Schreinerin, Musikerin und Orgelbauerin. Das ist nun wieder eine offizielle Meldung wert. Die Schreinerin stellte das Holz für den Bau einer Quinterne zur Verfügung. Genauer gesagt für die Decke der Quinterne. Ende der Meldungen.

Das schönste an der Uraufführung war, dass sie wiederholt wurde. Es fand die Uraufführung und die erste Aufführung statt.

Freitag, 27. Februar 2009

Die Rockflöte

Abgesehen von Basel und Huttwil ist das Narrentreiben und die fünfte Jahreszeit überall auf der Welt vorbei. Hier als Nachtrag ein besonders schönes Exemplar einer Fasnächtlerin, gesichtet am frühen Morgen des Aschermittwoch auf der Spreuerbrücke in Luzern (sie befand sich vermutlich auf dem Heimweg ins Hinterland, um pünktlich um Acht in ihrer Werkstatt an der Ausputzmaschine zu stehen): Die Rockflöte Nummer 1.

© Foto: Morisse Feger, Flautisto classico

Donnerstag, 26. Februar 2009

Die Männerseite

Heute habe ich Augen nur für die Männerseite. Von hinten nach vorne hängen an den rechten Seitenfenstern bunte Glasbilder mit männlichen Heiligen, jeweils zwei in einem Kirchenfenster in folgender Reihenfolge:

  • der sel. Niklaus von der Flüh und der hl. Gandolf.
  • der st. Lukas und der hl. Eulogius
  • der hl. Franziskus und der hl. Aloysius
  • der hl. Alban und der hl. Severin
  • und - über dem rechten Seitenportal, gegenüber dem linken Seitenportal, über dem die hl. Theresia und die hl. Agnes hängen - der hl. Crispinian und der hl. Crispin! Der dritte Crispin! Und der zweite Crispinian! Nun habe ich bereits fünf Schuhmacherschutzheilige um mich versammelt! Wäre der Orgelspieler gestern nicht bei der Arbeit gewesen, wer weiß, wie lange es noch gedauert hätte, bis ich diese beiden schönen Männer in der Mittagssonne entdeckt hätte. Buntgewandet, in kräftiges Grün und Rot gekleidet, von vielen Schuhen umgeben, beide halten in der vom Betrachter aus gesehenen "äusseren" Hand - also der hl. Crispinian in der linken und der hl. Crispin in der rechten Hand - einen Schuh. Auf beiden Bildern sind Hammer und Zangen vorhanden sowie der unverzichtbare Palmwedel zum Zeichen des überstandenen Martyriums. Sie hängen natürlich in der Sichtachse der Prozessionsbüste des hl. Crispin.
  • der hl. Magnus und der hl. Eutychius

Wieder bin ich schon fast vorne. Zwischen diesem und dem nächsten Fenster steht der Seitenaltar. Auf dem Seitenaltar steht die Prozessionsbüste des San Sebastian. Er ist angezogen und hübsch, mit vielen Pfeilen bestückt. Diese sogenannten Sebastianspfeile sollen vor Pest schützen sowie vor jeder "anfliegenden" Krankheit.

  • der hl. Joseph und der hl. Kilian

Ende der Männerseite.
Ich wiederhole mich ungern. Ich bin dem Orgelspieler unendlich dankbar. Und er ahnt immer noch nichts davon.

Mittwoch, 25. Februar 2009

Die Frauenseite

Der Mann am Laminiergerät fragte mich heute morgen, ob der neu aufgestellt worden sei.
Ich antwortete, meines Wissens stehe der da schon seit ewig und drei Tagen.
Er habe ihn noch nie gesehen, gestand der Mann, während er wartete, bis das Laminiergerät auf Einsatztemperatur warm geworden war.
Es ging um den heiligen Crispin. Ich hatte, aus Gründen, die ich hier nicht darlegen muss, sein Foto auf ein A4-Blatt ausgedruckt und wollte es in regensichere Plastikfolie einschweißen lassen.
Der Mann guckte sich das Bild noch einmal an. Und fügte hinzu: Ach, der steht auf der Frauenseite. Das Laminiergerät gab ein lautes "Piep" von sich und leuchtete grün. Der Mann am Laminiergerät machte sich an seine Arbeit.

Und ich habe meine Mehrsatztemperatur erreicht. Der Heilige Crispin in der St. Peter und Paul Kirche steht am linken Seitenaltar. Die linke Seite ist die Frauenseite. Ich lasse meine Sonntagsarbeit liegen und überprüfe das Gehörte. Der Orgelspieler ist in der Kirche bei der Arbeit. Also verweile ich. Es ist so schön. Im Sitzen. Im Stehen. Im Gehen. Ich schreite beide Seiten ab. Heute habe ich Augen nur für die Frauenseite. Von hinten nach vorne hängen an den Seitenfenstern bunte Glasbilder mit weiblichen Heiligen, jeweils zwei in einem Kirchenfenster in folgender Reihenfolge:

  • die hl. Magdalena und die hl. Katharina
  • die hl. Clara und die hl. Scholastica (es war mir nicht bewusst, dass dies eine Frau ist noch dass es sich um eine Heilige handelt - aber warum eigentlich nicht?)
  • die hl. Maria und die hl. Elisabeth
  • die hl. Barbara und die hl. Idda von Toggenburg
  • die hl. Theresia vom Kinde Jesu und die hl. Agnes
  • die hl. Anna und die hl. Agata

Ich bin schon fast vorne. Zwischen diesem und dem nächsten Fenster steht der Seitenaltar. Auf dem Seitenaltar steht die Prozessionsbüste des hl. Crispin, die wir bereits kennen.

  • die hl. Verena und die hl. Caecilia.

Ende der Frauenseite.
Der Orgelspieler ist noch bei der Arbeit. Ich erkläre meine Arbeit für heute für beendet. Der Orgelspieler hat weder von meiner Anwesenheit noch von meiner Arbeit etwas mitbekommen. Ich konnte weder seine Gegenwart noch die Früchte seiner Arbeit nicht zur Kenntnis nehmen. Ich bin ihm dankbar und er ahnt nichts davon.

Dienstag, 24. Februar 2009

Signierstifte

Ich bin immer noch dabei, den am Sonntag in die Mühle getragenen Berg Arbeit abzutragen: von einer Comfortschuh-Herstellerfirma bekam ich zwei Kugelschreiber geschenkt. Einen blauen und einen schwarzen. Der blaue schreibt blau und der schwarze schreibt schwarz. Das ist einfach zu merken. Niemand wird sich je an der falschen Farbe vergreifen müssen. Mit diesen beiden Stiften werden wir, meine Schuhmacherin und ihre Schriftstellerin, das Schuhmacherbuch signieren. Sobald es fertig geschrieben, lektoriert, vom heiligen Crispin inhaltlich abgesegnet, graphisch gestaltet, vom heiligen Crispinian formal abgesegnet, gedruckt, zusammengefasst und in einen Schutzumschlag eingebunden, von beiden Schuhmacherschutzheiligen abgesegnet, in Menznau im Schuhhaus auf dem Werktisch neben den Messern, Zangen, Örtern, Raspeln und Feilen liegt.

Montag, 23. Februar 2009

Montagsschuhwörter

Da sie so schön sind, hier im Uhrzeigersinn (beginnend mit dem Wort oben rechts außen, bzw. hinten am Schuh): Schmalferse, Schockabsorber, Luftpolster-Sportsohle, Kork-Fußbett, Leder-Decksohle, Vorfußpolster, hochwertiges Oberleder, bestes Innenleder, weich gepolsterte Lasche, weich gepolsterter Schaftabschluß.
Wenn das keine Poesie zum Nachmittagstee ist!

Montagsschuh

Zur Anschauung hier ein Schuh mit Aura und Innenleben.
Gestern kam mir in Spreitenbach ein leibhaftiger Crispin aus dem Lötschental entgegen, der hatte eine ähnlich leuchtende Aura.

Abbildung entlehnt von: http://www.solidus-schuh.com/
Kann ev. durch Anklicken vergrößert werden.

Sonntag, 22. Februar 2009

Sonntagsarbeit

Über Nacht ist die Schweiz noch einmal zugeschneit worden. Seufzend machen wir uns am frühen Morgen mit der SBB auf den Weg zur Arbeit. Das ist umständlich, wir müssen viermal umsteigen, verpassen wegen Verspätung einen Anschluss, kommen an Orten vorbei, von denen ich nicht gewusst habe, dass sie existieren. Aber noch umständlicher wäre es gewesen, das Auto der Schuhfrau aus dem Schnee auszugraben.
Wir, man weiß es bereits, das sind meine Schuhfrau, auch Schuhmacherin genannt, und ich, ihre Schriftstellerin. Sie arbeitet heute und ich laufe hinterher. Hinter ihr und hinter der Arbeit. Ich kann meine Arbeit immer erst hinterher verrichten. Die Schuhfrau hingegen kann an Ort und Stelle arbeiten. Ich muss meine Arbeit nach Hause tragen. Die Schuhfrau hingegen trägt ihre Bestellzettel nach Hause. Ich kann weder in der SBB noch in der FOM, der Fashion Order Mall, dem Schuhhandelszentrum in Spreitenbach arbeiten. Die Schuhfrau kann überall arbeiten.
Ich habe heute alle Schuhe der Wintersaison 2009/2010 gesehen. Auch die, die nie produziert werden, weil niemand sie bestellt. Die Schuhfrau hat heute auch alle Schuhe der Wintersaison 2009/2010 gesehen. Sie hat mit anderen Augen geguckt als ich. Sie sagt zum Beispiel: "Das goutiert meine Kundschaft nicht" und kauft keine mit synthetischen Textilien gefütterten Schuhe ein. Ich sage nichts. Ich sammle stumm Eindrücke. Schuhe, lerne ich, werden nach Sohlen sortiert. Schuhe, lerne ich, bekommen ihre Namen aus Büchern wie Kinder. Schuhe, lerne ich, sind für Schuhprofis vor allem von unten wichtig. Jeder Schuh wird zuerst in der Hand umgedreht. Die Schuhverkäuferinnen und Schuhverkäufer wollen die Beschaffenheit der Sohle sehen und befühlen. Dann sagen sie zum Beispiel: "Diese Sohle eignet sich für meinen Laden nicht!" Auch Absätze sind ein Problem. Eine aus der italienischen Schweiz angereiste Schuhverkäuferin klagt, ihre Kundinnen könnten in ihrem Laden diese Schuhe nicht anprobieren, da sie mit solchen Absätzen auf dem gebohnerten Parkettboden keinen Stand fänden. Sondern zu Boden segelten. Und dabei Gefahr liefen, sich das Genick zu brechen.
Ich entdecke auf einer Schuhsohle Wörter und Zahlen, Mengenangaben. Der Händler verrät mir, dass auf der Sohle des Ausstellungsstücks (= linker Schuh) ein Puddingrezept stehe. Auf dem rechten Schuh hingegen stehe ein Linzertortenrezept. Und da die Rezepte nicht vollständig auf den Schuhsohlen Platz fänden, seien sie im Katalog komplett nachzulesen. Oder nachzubacken. Nachzukochen. Donnerwetter! Und wir Laien gucken, ob oben die Farbe, der Bändel, der Reißverschluss, die Spitze, das Leder, die Breite, die Länge, die Höhe passt. Und die Schuhfachwelt guckt unten auf Rutschfestigkeit, Weichheit und Elastizität. Auf breiten Sohlenauftritt mit guter Seitenstabilität. Auf optimale Druckentlastung beim Abrollen. Auf stabile Fersenführung. Auf Auftrittdämpfung. Auf Vorfußabrollhilfe. Auf bienenwabenartige Luftflächen, die wie eine doppelte Verglasung den Fuß vor Kälte schützen. Auf weiche Polsterung, die das Gehen wie auf Wolken erscheinen lassen. Auf ...
Wie gesagt: die Schriftstellerin meiner Schuhmacherin nimmt die Arbeit mit nach Hause. Die Schuhmacherin der Schriftstellerin schläft längst selig. Morgen früh muss sie nämlich, bevor sie ihre Arbeit beginnen kann, mit der Schneeschaufel eine Bahn frei legen von der Straße zur Eingangstür ihres Schuhhauses.

Freitag, 20. Februar 2009

Oskar Bider (1891-1919)

Die Ähnlichkeiten sind verblüffend. Oskar Bider vor seiner Blériot-Maschine, wahrscheinlich um 1913 auf dem Gitterli in Liestal.




Foto entlehnt von der offiziellen Seite des Kantons Basellandschaft, siehe:
http://www.baselland.ch/album-htm.288186.0.html

Air Willisau

Die Crew von Air Willisau kurz vor dem Start zum Formationsflug am 19.2.2009, 14:45 Uhr.



© Foto: Pressestelle Air Willisau

Donnerstag, 19. Februar 2009

Schmudo

"Schmudo" las ich heute an einer geschlossenen Ladentür. Mich interessierte nicht der Laden, noch die Tür, noch ob offen oder nicht, sondern nur der Zettel. Ich verfalle hier der Unart von W., der an nichts Geschriebenem vorbeigehen kann, ohne es zu lesen. Bei mir verschlimmert sich dieser Zustand noch: ich kann an nichts Gesagtem vorbeigehen, ohne es zu hören. Mich interessiert nicht, was die Leute erzählen, entweder einem realen Gegenüber auf der Straße oder einem Unsichtbaren am anderen Ende einer weissgottwielangen Leitung. Ich kann nicht aufhören, mich zu wundern, wie die Leute in diesem Land reden. Mit welcher Unverfrorenheit die sonst so auf die Bewahrung ihrer Geheimnisse bedachten Schweizer beispielsweise in überfüllten Zügen alle Mitreisenden an ihrem Privatkram teilhaben lassen, den sie - dies ist meine Analyse nach sechseinhalb Wochen nicht repräsentativer Beobachtung - aus lauter Langeweile kreuz und quer ausbreiten.
"Schmudo" lerne ich heute, ist die Abkürzung für Schmutziger Donnerstag. Und Schmutziger Donnerstag hat nichts mit Schmutz zu tun. Die Stadtreinigung fegte den Dreck nach dem Kinderumzug heute Nachmittag innerhalb einer halben Stunde weg. Danach sah die adrette Hauptgasse wieder aus, als wäre gar nichts gewesen. Schmutz oder Schmotz ist angeblich ein Dialektausdruck für Fett. Am Schmutzigen oder Fetten Donnerstag (vgl. Jeudi Gras oder Giovedi Grasso - um bei unseren eigenen Sprachen zu bleiben) wurde früher noch einmal geschlachtet und man versuchte sich bis zum Beginn der Fastenzeit am Aschermittwoch noch möglichst viele Fettreserven anzuessen.

Das Schönste, was mir der Kinderumzug am heutigen Schmudo gezeigt hat, waren die drei roten Flugzeuge der Air Willisau. Die drei kleinen Piloten trugen mit Pelz gefütterte Lederfliegermützen, Fliegerbrillen, Lederjacken, Lederhandschuhe, Lederhosen und sogenannte "Bücker-Stiefel". Sie bedienten ihre Pappkisten so gekonnt, wie einst der Baselbieter Flugpionier Oskar Bider seine ersten Fluggeräte. Sie schwebten und wackelten tatsächlich im kalten Wind über der Altstadt. Wie phantasielos wirkte dagegen der realitätsnah gebaute silberne Kampfjet, in dem zwei Kinder unter einem Glasdeckel untätig hintereinander saßen. Das Superding hielt nur mit Hilfe dreier Erwachsener die Balance am Boden. Vorwärts kam es über das Straßenpflaster auch nur dank dieser Großen. Zwei hielten hinten die Flügel fest und schoben. Einer zog vorne an einem Strick wie an einer Kuh.

Fliegen ist kein Alpaufzug. Und der Schmutzige Donnerstag ist der sauberste Tag des Jahres.

Mittwoch, 18. Februar 2009

Schuhmacherwerkstatt 3

An der frischen Luft arbeiten auf Jamaika immer die Schuhmacher. Irgendwo habe ich gelesen, dass aller guten Dinge Drei sind.






© Wolfgang Georg Arlt

Dienstag, 17. Februar 2009

Schuhmacherwerkstatt 2

Auf Jamaika arbeiten die Schuhmacher immer an der frischen Luft. Irgendwo habe ich gelesen, dass die modernen Schuhmaterialien auch moderne Schuhklebstoffe erfordern. Und dass deshalb auf gute Entlüftungssysteme geachtet werden sollte.

© Foto: Wolfgang Georg Arlt

Montag, 16. Februar 2009

Schuhmacherwerkstatt 1

Die Schuhmacher auf Jamaika arbeiten immer an der frischen Luft. Irgendwo habe gelesen, dass der Montag früher den Schuhmachern heilig war.





© Foto: Wolfgang Georg Arlt

Sonntag, 15. Februar 2009

Sonntagsspaziergang

Einmal im Monat schreiten wir, die Schuhfrau und ihre Schriftstellerin, am Sonntag ein Stück beschriebener Welt ab. Heute ist die Sicht gut und wir haben unser Ziel die ganze Zeit vor Augen. Wir stapfen durch unberührten Schnee. Das Ankenloch (auf der Karte, auf der es eingezeichnet ist, fehlt ihm das zweite "n" - und auf dem Wegweiser vor unseren Augen wirkt es aufgeklebt, worauf, können wir nicht erkennen) lassen wir links liegen und überqueren den Wellbrig, von dem es so viele Ableger oder Varianten gibt, nach Nordosten. Ich sammle sie ein: den Usser Wellbrig, den Gross Wellbrig, den Wellbrig und den Hinder Wellbrig. Auf der Landeskarte der Schweiz (1 : 25 000) existiert der Vorder Wellbrig nicht, auf dem wir uns, wie das Foto zeigt, gerade auf 655 m über Meer befinden. Auf der offiziellen Wanderkarte des SAW (1 : 50 000) nimmt der Vorder Wellbrig den Platz des Wellbrig von der Landeskarte ein, der Wellbrig den des Usser Wellbrig - und der ist über den Rand der von der SAW angeschriebenen Welt hinausgefallen und existiert hier nicht.
Welcher Welt, welchem Wort, welchem Ort, welchem Augenschein sollen wir nun glauben und nacheilen?
Auf der anderen Seite der Wigger, in unserem Rücken (ich bringe die Himmelsrichtungen absichtlich durcheinander), liegt über Willisau der Willbrig. Ich glaube, die Endung -brig ist die dialektale Form von "Berg" (ich müsste den Briefträger fragen, der kennt sich aus: die Strasse, die auf den Wellbrig führt, heisst im Telefonbuch und auf seinen Briefumschlägen "Wellbergstrasse"). Im Süden gibt es noch den Wellsbrig, den Vorder Wellsbrig, den Hinder Wellsbrig und das Wellsbrigloch. Also der Well-Berg (der gewellte Berg?) und der Will-Berg (der gewillte, gewollte Berg? oder der Berg von einem Willi, wie er auch in Willi-s-Au steckt?) und der Wells-Berg (der gewell-te-S-te Berg?).
Wie oder wo sind wir nun angekommen?

Samstag, 14. Februar 2009

Der deutsche Shakespeare

König Heinrich
[…] O wünsch nicht einen mehr!
Ruf lieber aus im Heere, Westmoreland,
Daß jeder, der nicht Lust zu fechten hat,
Nur hinziehn mag; man stell ihm seinen Paß
Und stecke Reisegeld in seinen Beutel:
Wir wollen nicht in des Gesellschaft sterben,
Der die Gemeinschaft scheut mit unserm Tode.
Der heutge Tag heißt Crispianus' Fest:
Der, so ihn überlebt und heim gelangt,
Wird auf den Sprung stehn, nennt man diesen Tag,
Und sich beim Namen Crispianus rühren.
Wer heut am Leben bleibt und kommt zu Jahren,
Der gibt ein Fest am heilgen Abend jährlich
Und sagt: «Auf morgen ist Sankt Krispian!»
Streift dann den Ärmel auf, zeigt seine Narben
Und sagt: «Am Krispinstag empfing ich die.»
Die Alten sind vergeßlich; doch wenn alles
Vergessen ist, wird er sich noch erinnern
Mit manchem Zusatz, was er an dem Tag
Für Stücke tat: dann werden unsre Namen,
Geläufig seinem Mund wie Alltagsworte:
Heinrich der König, Bedford, Exeter,
Warwick und Talbot, Salisbury und Gloster,
Bei ihren vollen Schalen frisch bedacht!
Der wackre Mann lehrt seinem Sohn die Märe,
Und nie von heute bis zum Schluß der Welt
Wird Krispin-Krispian vorübergehn,
Daß man nicht uns dabei erwähnen sollte,
Uns wen'ge, uns beglücktes Häuflein Brüder:
Denn welcher heut sein Blut mit mir vergießt,
Der wird mein Bruder; sei er noch so niedrig,
Der heutge Tag wird adeln seinen Stand.
Und Edelleut in England, jetzt im Bett,
Verfluchen einst, daß sie nicht hier gewesen,
Und werden kleinlaut, wenn nur jemand spricht,
Der mit uns focht am Sankt Crispinustag.

entlehnt von: Projekt Gutenberg-DE, gehostet vom Spiegel
http://gutenberg.spiegel.de/?id=5&xid=2617&kapitel=21&cHash=c4ea3620492#gb_found

Freitag, 13. Februar 2009

Der falsche Bezug

Es gibt Leute, die denken beim Stichwort "Sankt Crispin" zuerst an Shakespeare. Sie liefern mir postwendend Belege, Textbeispiele, Originalzitate, links auf Filmausschnitte bei youTube usw. Shakespeare legt in seinem Drama "Henry V" der wichtigsten Figur, der Titelgebenden Figur, dem englischen König Henry V vor der Schlacht von Azincourt eine flammende Rede in den Mund. Der König bringt den heiligen Crispin ins Spiel, deshalb wird diese Rede gerne "Saint Crispian's Day Speech" genannt:

KING. [...] O, do not wish one more!
Rather proclaim it, Westmoreland, through my host,
That he which hath no stomach to this fight,
Let him depart; his passport shall be made
And crowns for convoy put into his purse:
We would not die in that man's company
That fears his fellowship to die with us.
This day is called the feast of Crispian:
He that outlives this day, and comes safe home,
Will stand a tip-toe when the day is named,
And rouse him at the name of Crispian.
He that shall live this day, and see old age,
Will yearly on the vigil feast his neighbours,
And say "To-morrow is Saint Crispian":
Then will he strip his sleeve and show his scars.
And say "These wounds I had on Crispin's day."
Old men forget: yet all shall be forgot,
But he'll remember with advantages
What feats he did that day: then shall our names,
Familiar in his mouth as household words
Harry the king, Bedford and Exeter,
Warwick and Talbot, Salisbury and Gloucester,
Be in their flowing cups freshly remember'd.
This story shall the good man teach his son;
And Crispin Crispian shall ne'er go by,
From this day to the ending of the world,
But we in it shall be remember'd;
We few, we happy few, we band of brothers;
For he to-day that sheds his blood with me
Shall be my brother; be he ne'er so vile,
This day shall gentle his condition:
And gentlemen in England now a-bed
Shall think themselves accursed they were not here,
And hold their manhoods cheap whiles any speaks
That fought with us upon Saint Crispin's day.

Mit Schuhen hatte die Schlacht von Azincourt, eine der wichtigen Schlachten im Hundertjährigen Krieg, gar nichts zu tun. Und ob Shakespeare meine Hochachtung für Schuhmacher und deren Schutzpatrone teilte, wage ich zu bezweifeln. Ich glaube eher, dass er beim Schreiben ähnlich vorging, wie ich. Er brauchte für den Tag der Schlacht - den 25. Oktober 1415 - eine passende Metapher oder einfach nur ein schönes Wort oder hintersinngefälliges Wortspiel. Wie "Crispin- Crispian". Shakespeare musste die Rede seiner Figur, des englischen Königs mit ausreichend Explosivstoff bestücken. Der König musste seine Leute (angeblich nur 1000 Ritter und 5000 Bogenschützen) emotional motivieren - gegen jede andere Motivation sprach der Verstand - gegen das zahlenmässig weit überlegene französische Heer (angeblich 25 000 berittene Krieger) anzutreten und nicht feige davonzulaufen. Shakespeare lässt den König sogar großzügig anbieten, dass jeder, der nicht fechten will, ungestraft und mit Reisegeld ausgestattet nach Hause gehen darf. Mittlerweile haben Historiker belegt, dass das personelle Verhältnis der beiden Heere nicht 1:4 war, sondern höchstens 2:3 - von diesen Forschungen konnte aber Shakespeare nichts gewusst haben. Er, Shakespeare war dem Mythos der Zeit noch absolut verfallen - oder er erschaffte diesen Mythos erst mit seinem Stück selbst, auch das ist möglich. Er, Shakespeare musste eine literarische Erklärung finden für die innere Stärke, das innere Aufstehen einer Handvoll englischer Krieger, welche(s) ihnen diese unglaubliche Schlagkraft verliehen hatte. Und diese Erklärung plausibel herzustellen, ist für den Literaten reine Formsache.
Shakespeare lässt seine Figur, den englischen König eine sprachliche List anwenden, die auch ich in meinen Texten gerne anwende: das Spiel mit der Zeit. Die Zeitspirale. Eine in die Zukunft überdrehte Zeitspirale. Mit einer nicht unerheblichen Suggestivkraft drischt der königliche Feldherr mit literarischen Phrasen auf seine Soldaten ein: denkt daran, immer, wenn der Sankt-Crispin-Tag naht, denkt daran, denkt heute daran, wie ihr euch im Alter an jedem Sankt-Crispin-Tag an diese Schlacht (die in dem Moment, in dem der König spricht, noch gar nicht stattgefunden hat) erinnern werdet, wie ihr euren Söhnen die Narben zeigen werdet, wie ihr stolz auf eure Leistung an jenem Sankt-Crispin-Tag sein werdet, an jedem Sankt-Crispin-Tag bis ans Ende der Welt ... Der König versetzt seine Krieger sprachlich und mental in die Zukunft. Er erzählt ihnen ihre Zukunft. Er baut diese Zukunft rein sprachlich aber nicht minder real, mit einfachsten Mitteln auf: stellt euch vor, wie es sein wird, wie ihr euch fühlen werdet, wenn ihr die Schlacht überlebt habt. Mit diesem hypnotischen Zukunftsentwurf befreit er seine Soldaten vom Bewusstsein der quälenden, bedrohlichen, lebensbedrohlichen Gegenwart. Der König ersetzt mit seiner Rede, in der er nur verbale Mittel beschwörend benützt, das lähmendste, im Krieg unbrauchbarste aller Gefühle, die Todesangst durch eine beflügelnde Kraft, durch Stolz, durch Selbstbewusstsein, durch Gewissheit auf Weiterleben, auf Nachkommen, Kontinuität, Geschichte - mit einem Wort: Wert. Oder: Sinn. So gedopt stürmen die englischen Fußtruppen los. Und gewinnen.
Mit Schuhen hat das alles gar nichts zu tun (was mögen die Fußtruppen für Fußbekleidung getragen haben? Vielleicht zeigt es der Film oder youTube). Auch nicht mit den Handwerkerheiligen, meinen Schuhmacherpatronen und ihren hinten abgerundeten Schuhmacherhämmern. Die Schuhmacher verehrten ihre Schutzpatrone damals bereits seit mindestens eintausend Jahren immer am 25. Oktober. Crispin und Crispinian gehörten den Schuhmachern, lange bevor sie auch Shakespeare vereinnahmte. Alles reine Formsache: Shakespeare musste etwa 183 Jahre nach der Schlacht (die Uraufführung von "Henry V" fand 1599 statt) den Sieg literarisch überzeugend darstellen. Er musste den Sieg als eine logische Abfolge von Taten literarisch begründen. Und das ist ihm, Shakespeare, auch gelungen. Unter anderem mit Hilfe der Heiligen Crispin und Crispinian. Aber die Wahl dieser Heiligen ist purer kalendarischer Zufall. Die Schlacht fand am Tag statt, an dem die Schuhmacher ihrer Schutzpatrone gedenken. Aber die Schlacht hat mit dem Wesen dieser Heiligen und ihrer Verehrung nichts, aber auch gar nichts zu tun.

Ich mache das übrigens auch gerne. Ich erfinde auch mit Vorliebe literarisch raffinierte und plausible Lösungen für die Geheimnisse dieser Welt.

Die Saint Crispian's Day Speech hier im Original zum nachgucken und nachhören:
http://www.youtube.com/watch?v=OAvmLDkAgAM

Mittwoch, 11. Februar 2009

Die falsche Sprache

Was bedeutet es für ein viersprachiges Land wie die Schweiz, wenn der Konzernchef der UBS (immerhin der größten der Schweizer Großbanken, der sogenannten Megabank) an einer Medienkonferenz in Zürich den Rekordverlust seines Hauses in einer fünften, einer fremden Sprache, in Englisch bekannt gibt? In einem, nebenbei bemerkt, wohltemperierten helvetischen Englisch. Aber nicht die nationale Färbung der fremden Sprache irritiert mich, auch nicht das unangepasste Tempo oder die falschen Betonungen. Nein, das ist alles Ansichtssache oder Schmuckwerk. Ihren kommunikativen Auftrag erfüllte die fremde Sprache. Die message von den grauenhaften fast 20 Milliarden (19, 7 um genau zu sein) verstanden alle, die es interessiert, rund um den Erdball richtig.

Nein, mich irritiert nicht, wie die fremde Sprache gesprochen wird. Mich irritiert, dass in der fremden Sprache gesprochen wird. Dass in dieser Sache von einem Schweizer in der Schweiz vor Schweizer Medienleuten in der fremden Sprache gesprochen wird. Als ob wir nicht genug eigene Sprachen zur Verfügung hätten. Und es irritiert mich, dass dies niemandem aufzufallen scheint, außer mir.

Mich irritiert, dass in (deutschsprachigen) Kommentaren heute von "vergifteten" Wertpapieren die Rede ist, von "toxischen" Anteilen, von "Schrottpapieren", von einem "echten Ramschpaket" im Gegensatz zu "noch einigermassen brauchbaren Papieren", von einem "Klumpenrisiko Grossbank", von einem "Schrottpapier-Deal" mit dem Bund, bzw. der SNB usw.

Den ganzen Tag höre ich Schriftdeutsch im nationalen Radio.
Den ganzen Tag versuche ich mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Auf das fehlende Emblem in der Hand des einen Zwillingsschuhmacherpatrons in der Heilig-Blut-Kapelle.
Den ganzen Tag höre ich in regelmäßigen Abständen, dass das Staatsradio einen "Partner für Klassik und Jazz" hat, sprich (oder verstehe): gesponsert wird von der Crédit Suisse.

Wundert es irgendjemanden am anderen Ende der Leitung, dass auch der CEO dieser Schweizerischen Großbank heute einen Milliardenverlust vermelden wird? Ich kann noch nicht sagen, in welcher Sprache, aber ich nehme an, in der Sprache der Diplomatie - en français.